»Leute, liebe Leute, ich muss doch sehr bitten! Das ist doch lächerlich!« brüllt Bürgermeister Marther, springt von seinem Platz auf, wobei er fast Holm-Rüdiger Andersens iPad vom Tisch rührt und gestikuliert wie ein Jongleur unsichtbarer Motorsägen. Tante Heidi ist im Begriff, ihre Brille zu verschlingen. Diese Angewohnheit wird sie ganz sicher noch einmal ins Grab bringen. Caruso indes, dieser Raubritter im Dienste des Chaos, sieht mir tief in die Augen, tränkt mich erst mit Zweifeln, dann Zuversicht, dann elektrisch kribbelnder Stärke. Ich gönne mir den Luxus, mich ein bisschen zu verlieren, in ihm und dem, was er da gerade ausgelöst hat, suche nach einer Bedeutung und finde keine außer dem urplötzlichen Wissen, dass, egal wie gut wir einander zu kennen glauben, wir doch nur uns selbst im jeweils anderen suchen und so zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Geliebt, ganz sicher, vor allem aber gemeinsam, gegenseitig verwundet und genesen, letztlich jedoch immer einander fremd, wie es der Fluch der Nähe ist, zwischen Menschen. Ganz zu schweigen von Bademeistern im selben Schwimmbad eingesetzt. Wie können wir je einander genügen wenn das, was wir als Ideal da draußen suchen lediglich als Vorstellung in uns selbst existiert und selbst das nur unvollkommen, verstümmelt, grotesk versehrt und irr? Was für ein Blödsinn!
Ich sehne mich nach Maike. Sie könnte mir alles erklären.
Walter schnürt vor Empörung den Brustkorb noch fester in die verschränkten Arme ein und bellt durch seinen Eisenbart, Anita zetert Zusammenhangloses über Gemeinderat und Eintrittspreise, Saskia knickt mir ihr Knie in die Schläfe, dass ich fast mein Stück Eiskonfekt fallen lasse. Furios wirft sie ihre bunt mit wuchernden Heckenrosen, Zigarre rauchenden Putten und flammenden Billardkugeln tätowierten Schenkel abwechselnd übereinander. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Marlies sich draußen im Kassenhäuschen fast den Hals verrenkt im Versuch, Details der Aufregung auszumachen. Irgendjemand in diesem Raum braucht dringend neue Badelatschen. Es stinkt mit einem Mal kreatürlich. Wahrscheinlich bin ich es selbst.
Caruso aber ist ein stiller, fester Monolith im peitschenden Gemenge.
Genauso Holm-Rüdiger Andersen. Nur schmaler, eleganter und merkantiler. Mehr beredte Stele als massiver Obelisk. Beide sehen sich an wie verlorene Brüder, Antipoden, voller skeptischen Respekts füreinander. Dann mich. Caruso wickelt ein Eiskonfekt aus und hält es vor sich her, als sei es ein Kleinod. Holm-Rüdiger Andersen macht sich lang und fischt ein Stück aus der Schale. Er betrachtet es gravitätisch. Ich bin nicht so für Schokolade, aber auch ich wickle mein Konfekt aus und wir alle drei, umwirbelt von Aufruhr, kauen schmelzend das süße, fette Lebensblut der Gemeinde Schweigen. Zucker tobt stochernd durch mein verkatertes Gehirn. Dann zerre ich meinen Schlüsselbund aus der Tasche und schlage damit einen so harsch rasselnden Rhythmus auf den Tisch, dass die Tassen klirren.
»Freunde, hallo Freunde«, versuche ich mich souverän dirigentenhaft zu geben und zu meiner Verblüffung wenden sich tatsächlich alle Gesichter mir zu. Münder, Augen, gerade noch an der Luft herumzerrende Hände verharren. Ich erinnere mich an Tante Heidis Sermon über das, wie sie es nannte, Buch des Lebens und verbeiße ein Grinsen. Warum nicht wirklich ein neues Kapitel aufschlagen? Oder, besser noch, selbst verfassen? Das ist doch mal was...
»Nun beruhigt Euch bitte mal wieder«, onkele ich in die schwitzende Stille. »Diese ganze Aufregung führt doch jetzt zu nichts.«
»Na hör mal, Flex, als wenn wir dazu nicht allen Grund hätten. Uns aufzuregen. Wenn die das Bad schließen wollen so Knall auf Fall!« Anita sieht sich beifallheischend um und erntet zustimmendes Gegrummel. Ich zupfe ein langes schwarzes Haar vom Ärmel meines T-Shirts und lasse es zu Boden gleiten. Muss wohl von Saskia sein.
»Anita«, sage ich beschwörend. »Leute. Jetzt hört doch mal zu! Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass die Gemeinde so mir nichts dir nichts ein Bad wie das Forstbad dichtmacht? Ehrlich jetzt, mal ganz abgesehen von unserer Bedeutung als Sport- und Freizeitstätte für die Gemeinde muss man sich doch nur mal vor Augen halten, welches Standing wir nach wie vor in der Bäderlandschaft in der näheren Umgebung haben, Investitionsstau hin oder her.«
Saskia lächelt kantig. Sie hat im Ronolulu in Rotenburg gelernt und danach für eine Saison in Bomlitz gearbeitet, bevor sie vor zwei Jahren im Forstbad landete. Saskia weiß, wie ein durch und durch ausgelastetes Schwimmbad aussieht. Sie beschäftigt sich mit ihren violetten Plastiknägeln anstatt auf meine Beschwichtigungen einzugehen. Ich danke ihr insgeheim. Fast liebe ich sie in diesem Moment. Fast macht mir diese Farce schon Spaß.
»Außerdem«, füge ich hinzu und tue mich mit erhobenem Finger kompetent, »wollen wir doch mal das Wichtigste nicht vergessen: wir sind im öffentlichen Dienst angestellt. Wenn Ihr Euch mal ein bisschen mit der arbeitsrechtlichen Situation befasst habt, müsste Euch klar sein, dass man Leute wie uns nicht mal eben so auf die Straße setzt. Ist doch so, oder?«
Ich blicke zu Tante Heidi, die wie in Epoxidharz gegossen da sitzt, regungslos, apathisch.
»Absolut, Herr Freiwaldt«, antwortet Bürgermeister Marther an ihrer statt. »Vollkommen richtig. Das wär ja... das wär ja regelrecht absurd!«
Er wartet ab, seine Mimik immer noch drohend aber um Nuancen kontrollierter als zuvor. Lauernd.
Ich spüre Carusos und Holm-Rüdiger Andersens starrendes, um Beute ringendes Begehren. Irgendetwas trägt mich plötzlich. Ein Schweben unter mir, in mir, leicht und treibend, mich davontragend wie ein warmer, sonniger Wind im Kopf. Ich nehme mir ein weiteres Stück Eiskonfekt aus der Schüssel, wickele es vorsichtig aus und lutsche darauf herum. Dann schnippse ich die Aluminiumfolie in den Papierkorb neben der Tür. Das kriegen wir hin. Ich tippe unhörbare konziliante, beruhigende Kaskaden auf der Tischplatte und schubse meinen Schlüsselbund sanft klimpernd gegen die Konfektschüssel.
»Und echt jetzt mal, angenommen, die Gemeinde hätte tatsächlich vor, hier den Sack zuzumachen, warum würde man sich dann die Mühe machen, einen Nachfolger für den Betriebsleiterposten zu ernennen und einzuarbeiten?«
Walter stützt sich in seine Faust und sucht mein Gesicht ab. Dann nickt er gewichtig.
»Flex hat recht«, rumpelt er. »Auch wenn wir einiges gewohnt sind in diesem Laden«, er wirft Bürgermeister Marther eine Art Lächeln zu, der seine Hände aneinander reibt, sie im Nichts waschend. »Das sind doch nichts als Scheißhausparolen. Dummes Gerede. So eine Nummer zieht kein Arbeitgeber ab. Nichtmal in Schweigen.«
Krachend schiebt Walter seinen Stuhl zurück so gut es geht, schält sich hinter dem Tisch hervor und drückt knarrend das Kreuz durch.
»Meine Meinung: Füße still halten und weitermachen. Ich zieh mich jetzt um, hab 'ne Spätschicht zu schmeißen. Komm, Caruso, lass uns den Viktor ablösen gehen.«
Er bedenkt das Trio am Kopfende mit einem halben Auge.
»Ist recht?«
Bürgermeister Marther nickt dankbar und schafft es irgendwie, gleichzeitig dabei den Kopf zu schütteln.
»Natürlich, Herr Teller, aber natürlich. Das wäre dann alles. Und noch einmal, Herr Balthasar, liebe Leute«, er breitet die Arme aus und neigt sein Kinn von rechts nach links und wieder zurück. »Bitte, machen Sie sich nicht verrückt und helfen Sie uns, also Herrn Andersen, obwohl es natürlich um uns alle geht, also, kurz gesagt, ich bitte Sie alle noch einmal ganz nachdrücklich um Ihre Unterstützung in diesem so zukunftsweisenden Projekt. Und, ich kann Herrn Freiwaldt nur beipflichten, machen Sie sich da um Himmels Willen keine Sorgen wegen solcher Gerüchte! Hier geht alles weiter seinen Gang, das kann ich Ihnen versprechen. Und nicht jede Neuerung ist etwas Schlechtes. Ganz im Gegenteil. Eine Chance! Ja? Ja.« Er sieht mich an, das Gesicht weich wie immer, sein Blick ein kalter Nebelwald.
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