So reihte ich mich also in die Riege der alleinerziehenden Mütter ein. Einen Vater brauchte das Kind? Wozu? Es hatte doch mich.
Niemals werde ich das Glück vergessen, meinen kleinen Felix nach der Geburt im Arm halten zu dürfen. Der Duft der Babyhaut, die winzigen Finger und die großen fragenden Augen sind mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Man muss es einfach erlebt haben. Vergessen waren die schmerzvollen Wehen und die nicht unkomplizierte Geburt, erst recht der dicke Bauch und die morgendliche Übelkeit. Ich war die glücklichste Frau der Welt.
Der kleine Sonnenschein konnte ein wahrer Dickkopf sein und schien über ein unbegrenztes Potential an Wutausbrüchen zu verfügen, wenn er nicht seinen Willen bekam, wurde mir bald klar. Dabei las ich ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Nur hatte er so seine eigenen Vorstellungen, was ihm zustand und was nicht.
Im Kindergarten hatte Felix große Probleme, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Als Einzelkind war er gewohnt, dass alles ihm allein gehörte, und er es nicht teilen musste. Mehr als einmal musste ich mir sagen lassen, dass ich ihm nicht alles durchgehen lassen dürfe.
Dann kam die Einschulung, und das Blatt wendete sich. Felix kam jetzt auch mit älteren Kindern in Berührung und geriet mehr und mehr ins Abseits. Er war ausgesprochen zart und deutlich kleiner als seine Klassenkameraden. Auch konnte man ihn mit seinen weichen Gesichtszügen beinahe für ein Mädchen halten. Ein Umstand, der Anlass zu Spott und Hänselei gab. Eines Tages eröffnete er mir, dass er nicht mehr in die Schule gehen werde, weil man ihm dort ständig irgendwelche Dinge wegnahm, ihm auflauerte und ihm ständig Prügel verabreichte.
»Dann bist du also neulich gar nicht hingefallen, und die Jacke hast du dir auch nicht am Zaun zerrissen?«, fragte ich besorgt.
Felix schüttelte den Kopf.
»Und deine Lehrer, was sagen die dazu? Die müssen doch mitkriegen, dass man dich misshandelt.«
»Wir sind einfach zu viele. Manchmal glaube ich, die gucken einfach weg, weil es ihnen egal ist.«
»Ich werde gleich morgen in die Schule kommen und mit der Rektorin und den Lehrern reden«, sagte ich entschlossen.
»Wenn du das machst, bin ich ganz unten durch«, rief Felix aus, »für die bin ich sowieso das Muttersöhnchen, das bei Mama im Bett schläft, weil es keinen Papa gibt. Und wenn sie merken, dass ich sie angeschwärzt habe, werde ich keine ruhige Minute mehr haben.«
»Dann gibt es nur einen Weg. Du musst dich wehren. Zeig ihnen, dass sie nicht alles mit dir machen können. Schlag zurück, damit sie Respekt vor dir bekommen.«
Felix nickte nur, und die nächste Zeit gab es keine Probleme mehr.
Wochen später wurde ich zur Rektorin bestellt, die mir mitteilte, dass Felix einem anderen Jungen mit einem Stein einen Zahn ausgeschlagen habe. Er zeigte keinerlei Schuldbewusstsein und erklärte, in meinem Sinne gehandelt zu haben. Es kostete mich einige Mühe, die Sache grade zu biegen und einen Schulverweis abzuwenden.
Je älter Felix wurde, desto introvertierter geriet er. Er verbrachte Stunden in seinem Zimmer vor dem Computer oder vor dem Fernseher. Ich kannte mich mit Computerspielen nicht aus, deshalb war mir nicht klar, dass die von Felix bevorzugten die brutalsten waren. Auch diskutierten wir immer wieder über seinen Geschmack hinsichtlich der Videos, die er anschaute, Es waren Streifen dabei, wo mir die Haare zu Berge standen, weil dort das Blut in Strömen floss und die Leichenteile nur so herumflogen.
»Das ist doch alles nur Film, Mama«, beruhigte er mich, »das kann man gar nicht ernst nehmen, das viele Kunstblut, das eher an Ketchup erinnert.«
»Das mag ja sein, aber es wird vermutet, dass diese Filme die Hemmschwelle bei Jugendlichen abbauen und zur Gewaltverherrlichung beitragen. Nicht umsonst sind sie nur für Erwachsene zugelassen.«
Felix wiegelte ab und sah weiterhin seine Horrorstreifen.
Gisi bekam einmal einen Vorfall mit, der sie ziemlich aufregte. Ich schrie gellend auf, weil sich in unserem Bad eine dicke Spinne befand.
»Felix komm und schlag sie tot. Ich habe sonst keine ruhige Minute mehr!«, rief ich.
Gisi war entsetzt. »Man kann sie auch mit einem Tuch nach draußen befördern«, sagte sie, »mit Insekten fängt es an, und später schreckt er auch vor größeren Tieren nicht zurück.«
»Ja, als Kinder haben sie mal Ratten in den Fallen erschlagen und einer Katze ein Tuch um den Schwanz gebunden und es dann angezündet«, gab ich kleinlaut zu, »aber das sind doch dumme Jungenstreiche, das machen doch alle.«
»Eben nicht. Und du bist dazu da, ihm so etwas abzugewöhnen und in ihm ein Unrechtbewusstsein zu entwickeln. Woher soll der Junge Achtung vor der belebten Natur entwickeln, wenn du es ihm nicht beibringst?«
»Na, du scheinst bei deinen Kindern ja alles richtig zu machen. Wahrscheinlich sind sie Musterschüler und ein Ausbund an Ehrenhaftigkeit.«
»Jetzt sei doch nicht beleidigt. Ich sage dass doch nicht, um dich zu verletzen. Kinder brauchen sehr viel Liebe, das ist richtig, und davon verfügst du reichlich und gibst sie auch weiter, aber man muss ihnen auch ihre Grenzen aufzeigen und ein Vorbild an ethischen Richtlinien sein. Sonst tanzen sie dir nicht nur eines Tages auf dem Kopf herum, sondern kennen auch in ihren Handlungen keine Grenzen. Und wenn die Sache erst aus dem Ruder geraten ist …«
Ich dachte lange über Gisis Worte nach. War ich zu nachgiebig gegenüber Felix? Zu sorglos und leicht-gläubig? Siedend heiß fiel mir ein, dass ich dazu neigte, in der Wut verbal die Grenzen zu überschreiten. Wenn ich mich über jemanden geärgert hatte, kam es vor, dass ich ausrief:
»Ich könnte sie erschlagen, die dumme Kuh.«
Oder nach einem Kurzgastspiels eines neuen Liebhabers rutschten mir auch Äußerungen heraus wie:
»Der ist es nicht wert, dass ihn die Sonne bescheint«, oder »Dem müsste man alle Knochen im Leib zerbrechen.«
Aber um Himmels willen, ich meinte das doch nicht so. Ich war nur mitunter leicht aufbrausend und von überschäumendem Temperament, und Felix war in dieser Hinsicht so ganz der Sohn seiner Mutter.
Wann das mit der Jugendgang angefangen hatte, kann ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Ich stellte nur erleichtert fest, dass Felix jetzt mehrere Kumpel um sich scharte, die ihn auch in seinem Zimmer aufsuchten. Nicht alle gefielen mir vom Äußeren her. Sie trugen schwere Schuhe, diese eigenartigen Jacken und Lederhosen oder Jeans, die zerrissen und schmutzig waren. Ihre Frisuren waren äußerst gewöhnungsbedürftig, falls überhaupt vorhanden, denn einige waren stellenweise rasiert oder kahlköpfig. Dagegen war mein Junge ausgesprochen manierlich gekleidet. Auch trug er keine Piercings oder Tattoos, die bei den Jugendlichen immer beliebter wurden.
Erleichtert stellte ich fest, dass sie zwar kistenweise Bier konsumierten, aber keine harten alkoholischen Getränke. Überhaupt ging meine anfängliche Besorgnis in eine völlig falsche Richtung. Sie rauchten zwar wie die Schlote, aber Drogen waren tabu in dieser Gemeinschaft. Und sie hatten sich auch kein rechtsradikales Gedankengut zu Eigen gemacht. Nur unterschätzte ich die Gefahr, weil die Grenzen oft fließend sind. Und als älterer Mensch kann man sich oft nicht vorstellen, was in den Köpfen dieser jungen Menschen vor sich geht.
Als eines Tages die Polizei vor unserer Tür stand und mein Junge in Handschellen abgeführt wurde, brach für mich eine Welt zusammen. Das alles musste doch ein Irrtum sein. Ich war fest davon überzeugt, dass sie den Falschen in Gewahrsam genommen hatten.
Als man mir eröffnete, Felix stehe in Verdacht, einen Obdachlosen erschlagen zu haben, glaubte ich noch immer, dass er nicht der Täter sein konnte. Vielleicht wollte man ihm die Tat nur in die Schuhe schieben. Aber all meine Hoffnungen und Zweifel stürzten wie ein Kartenhaus ein, als ich meinen Jungen während der Gerichtsverhandlung sagen hörte:
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