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Mehmet fährt mit geöffneten Fenstern und lauter Musik durch Bad Tölz. Hin und wieder sieht er Menschen auf dem Weg zur nächsten Wirtschaft, oder zur Arbeit. Das gibt es auch noch, denkt er. Hinter zwei Mädchen pfeift er her. Die eine zeigt ihm den Stinkefinger. Mehmet grinst, wirft ihr einen Handkuss zu.
Den Lieferwagen parkt er direkt vor dem Friedhof, greift nach einem kleinen Blumenstrauß auf dem Beifahrersitz, der aus Wassernot schon ziemlich verwelkt aussieht, öffnet eine kleine, laut quietschende Seitentür in der Friedhofsmauer. Besuche der letzten Ruhestätte von Hinterbliebenen laufen in einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ab. In Japan etwa, aber auch anderswo, sind gemeinsame Treffen der Verwandtschaft in Form eines Picknicks, mit Musik aus einem tragbaren Radiogerät, durchaus üblich. Man zeigt auf diese fröhliche Art und Weise, die immer und ewig währende tiefe Verbundenheit der Lebenden mit den Dahingeschiedenen. Im ägyptischen Kairo wohnen einige sogar auf Friedhöfen. Das ist kostengünstig, keine Miete, und zugleich fühlt sich der Rest der Familie den Verstorbenen rund um die Uhr nahe. So jedenfalls erzählt es der deutsch sprechende Fremdenführer im vorbei fahrenden Reisebus und erfreut sich dabei an den schaudernden Touristen. In Deutschland nimmt man den Totenkult anders wahr. In einer Spannweite von ernst bis dramatisch. Das teure, dafür aber äußerst stattliche Familiengrab wird von früh bis spät gehegt und gepflegt. Manch trauernde Witwe verwandelt die letzte Ruhestätte in eine Art Schrebergarten. Blattgold gerahmte Fotos des verstorbenen Gatten verzieren ein hochglanzpoliertes Granitgestein, dicht umstellt von Zierbüschen, rustikalen Sträuchern und größeren Bäumen, belegt mit je nach Jahreszeit wechselnden, üppigen Blumenarrangements, umschlungen von Girlanden und Trauerflor mit eindrucksvollen Zitaten deutscher Dichter und Denker oder sehr persönlichen Erinnerungen an gemeinsame Stunden, Tage, Jahre in meist gefühlvollen Reimen, die den Betrachter zu Tränen rühren. Zugleich aber sind Deutschlands letzte Ruhestätten oft eindrucksvolle Parklandschaften, es gibt sie in Hamburg oder in Leipzig, aber auch die schlichteren Friedhöfe in München und Berlin sind sehenswert, verfügen mit ihren uralten Baumbeständen, den Buchen, Birken und Tannen über einen stillen geheimnisvollen Zauber, der manchen Trauernden tief durchatmen lässt, in oft sogar fröhlich stimmt. Vor einer schlichten Grabstätte mit der Aufschrift JASMIN bleibt Mehmet stehen. Ein „Servus, Mama“ bringt er leise heraus, was ihn in seiner plötzlichen Schüchternheit liebenswert macht. Er legt den leicht verwelkten Blumenstrauß ab und bleibt dann unschlüssig stehen. Hinter einem großen, weißen Marmor Gedenkstein mit Engelsfigur gibt es Bewegung: Fidelitas beobachtet Mehmet, der jetzt auf sie aufmerksam wird.
„Ey, hast du ´n Problem, oder was?“ Er will auf Fidelitas zugehen, da klingelt sein Handy. Yüksel, wie immer in Sorge um den einzigen Sohn, wenn er sich nicht gleich meldet nach getaner Arbeit. Mehmet nerven diese Kontrollanrufe seit langem, weshalb er kurz angebunden ist.
„Papa, was gibt’s? Ja, klar hab’ ich pünktlich geliefert. Tag und Nacht. Bin jetzt grade in der Garage wegen dem Rest Obst. Nein, Papa, hab ich dir doch mein Wort gegeben: Erst die Arbeit – dann das Vergnügen, okay?! … Mach ich Papa, bin gleich fertig mit dem aufladen…“
Er klappt das Handy zu und sieht sich suchend um: Fidelitas ist verschwunden.
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Der fachmännisch vor Yüksels Lebensmittelladen aufgebaute Obststand wird von einem Typen sowas von gründlich betrachtet und untersucht, dass ein Beobachter denken könnte, der Kerl mit der Strickmütze ist einer von diesen emsigen Lebensmittelkontrolleuren, oder noch schlimmer, ein bekannter Fernsehkoch, der im Geist bereits ein Gutachten formuliert, um die ausgestellte Ware in höchst professionellem Sinne, aber je nach Laune, positiv oder negativ zu bewerten.
Die Ware bestens, Integration gelungen, Gesetze befolgt, keine Beanstandungen müsste es in einem Bericht über Feinkost Yüksel heißen, obwohl der Inhaber einen Migrationshintergrund hat, weshalb immer Vorsicht angesagt ist und man gegenteiliges nie mit Sicherheit ausschließen kann.
Fidelitas kennt das Problem dieser gefürchteten, geschäftsschädigenden oder auch geschäftsfördernden Experten-Beurteilungen nicht, denn sie ist weder Fernsehköchin noch eine strenge, staatlich geprüfte Überwachungskraft für Lebensmittel – sie hat eine Mission zu erfüllen und ist deshalb an allem und jedem interessiert was sie nicht kennt und schon deshalb neugierig macht.
Äpfel allerdings sind ihr nicht unbekannt, jeder Engel in den Himmlischen Heerscharen kennt schließlich die Story von Adam und Eva im Paradies und der bösen Schlange mit dem süßen rotbackigen Äpfelchen. Aber probiert, also gegessen, hat sie so ein verführerisches Stück Obst natürlich noch nie, wie denn auch, bei dieser teuflischen Vorgeschichte.
In einem hellen Feinkost-Yüksel Arbeitsmantel, mit Eimer und Leiter, kommt Yüksel aus seinem Geschäft, um ein paar kaum sichtbare Flecken an der Schaufensterscheibe wegzuwischen.
Höflich, Engel sind traditionell zuvorkommend, hilfsbereit und höflich, das weiß man und Fidelitas macht da keine Ausnahme, denn sie gehört nun mal zu den Guten. Der einzige bekannte bösartige Engel ist übrigens Luzifer. Der Name bedeutet wörtlich übersetzt ´Lichtträger`; ein strahlend schöner Engel soll er, gewesen sein, ein Liebling Gottes, der durch eigenes Verschulden zum völligen Außenseiter und schließlich zum Fürsten der Finsternis wurde. Schlichtere, also nicht Wikipedia gebildete Gemüter, kennen den bösen Luzifer nur unter dem Spitznamen ´Teufel` - und dass er ein schlimmer Finger ist haben die meisten von ihnen schon in der Kita gelernt.
Die Engelin Fidelitas wird später von ihm zu berichten haben, jetzt aber tritt sie, wie oben schon gesagt, höflich etwas zurück und stößt dabei mit dem Fuß gegen das Gestell mit dem Obst. Ein halbes Dutzend Äpfel fallen herunter. Der heute schon mehrfach geplagte Yüksel stöhnt genervt auf.
„Bitte…“
Sofort bückt sich Fidelitas und beginnt das Obst aufzuheben.
„Niemand will kaufen das!“
„Ich nehme es“, sagt Fidelitas und fühlt sich sowas von schuldig. Yüksel aber ist es zufrieden, wiegt das Obst ab und packt es in eine umweltfreundliche braune Papiertüte mit der gut lesbaren Aufschrift ´Feinkost-Yüksel`.
„Vier achtzig.“ Fidelitas sieht ihn fragend an.
„Ist vier Euro achtzig, Sonderpreis, alles zusammen…“ Fidelitas blickt weiter ratlos, dies macht dem gutmütigen Yüksel sofort ein schlechtes Gewissen. Zum Glück hält jetzt Mehmet mit seinem Lieferwagen vor dem Geschäft.
„Auslieferung fertig, Papa!“ Yüksel auf Türkisch (hier gleich in der Übersetzung)„So was hast’ noch nicht erlebt. Kauft groß ein und kann nicht bezahlen.“
„Wer?“ fragt Mehmet überflüssiger Weise, denn außer dem Typen mit der Strickmütze ist niemand zu sehen. Der allerdings kommt ihm bekannt vor.
Yüksel zeigt auf Fidelitas. Mehmet stutzt, steigt dann aus dem Transporter.
Um den Vater nicht zu enttäuschen, trägt er jetzt ebenfalls den hellen reinlichen Arbeitsmantel von ´Feinkost Yüksel`.
„He, du! Hast’ kein Geld? Einkaufen und kein Euro!“ Er kommt näher, mustert Fidelitas von oben bis unten.
„Kenn‘ ich dich, he?! Hab dich doch schon gesehen – am…ääh, bei unserer Garage, ja?!“ Und da Fidelitas ihn nur stumm ansieht, weil um eine Antwort verlegen, macht er den bemützten Typ weiter an.
„Aha, bist du stumm! Kannst nix reden, was?!“
Fidelitas, nun doch einigermaßen überrascht von Mehmets aggressivem Auftritt, mustert ihn eindringlich, schweigt aber weiter.
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