Sie betraten den Raum und sahen sich um.
»Hast du etwas angefasst«, fragte einer der beiden.
Er schüttelte den Kopf.
»Gut. Dann wollen wir uns an die Arbeit machen«, sagte derselbe Mann. »Guck mal draußen, ob wir den irgendwo hineinpacken können«, forderte er seinen Kumpel auf.
»Draußen ist so eine blaue Tonne mit Deckel. Circa hundertfünfzig Liter. Da passt der rein.«
»Pack an.« Sie schleppten den toten Bastian nach draußen und steckten ihn in die Tonne.
Sie zauberten eine Sackkarre her und transportierten den Toten zu dem Lieferwagen. In weniger als zwei Minuten saßen sie wieder im Auto.
»Wohin damit?«, fragte einer. Peter konnte nicht mehr sagen, welcher.
»Ich kenne nur eine Stelle. Aber da müssen wir einige Kilometer fahren.«
»Macht nichts.«
Eine halbe Stunde später befuhren sie, von Stahe kommend, die Neutrale Straße in die Teverener Heide und bogen in einen Weg, der Spuren von Kieslastern aufwies. Wenige Minuten später erreichten sie die Kiesgrube, die seit wenigen Wochen stilllag und zurzeit notdürftig renaturiert wurde. Daran verschwendeten die ehemaligen Nutznießer nie viel Geld.
»Wir müssen ihn nach unten ins Loch schaffen. Hier wird in den nächsten Tagen verfüllt und dann läuft das verbleibende Loch voll Wasser.« Peter deutete nach unten. Der Mond nahm zu und das Licht reichte, alles zu erkennen.
Wortlos rollten die Männer die Tonne nach unten. Sie sahen sich um und fanden zwei Stangen, mit denen sie in den Überhang oberhalb der Sohle stießen. Mit Gepolter stürzten einige Tonnen Dreck in die Tiefe. Das Kapitel Bastian schloss sich.
In den wenigen besinnlichen Augenblicken, die er seinem Verstand zugestand, fragte er sich, wie es so weit habe kommen können, dass sein Gewissen sich nicht meldete. Er kam immer wieder zum Zeitpunkt seiner Initialisierung zurück, die ihn Wochen krankmachte. Gesunden konnte er damals nur, in dem er die Gefühle in seinem Inneren so tief verschloss, dass er nicht mehr an sie herankam.
*
Peter Brock wurde mit verbundenen Augen in einen Raum geführt. Er fühlte sich zehn Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt, als er zum zu ersten Mal das Haus der Burschenschaft besuchte. Jedoch heute befand er sich in einer anderen Situation. Er besaß nicht mehr die Unbekümmertheit der Jugend und wusste viel mehr über die Organisation, als damals, was auch nicht gerade zur Beruhigung beitrug. Er spürte, dass ihn jemand beobachtete, und spitzte die Ohren. Kein Laut drang zu ihm. Umso mehr schreckte ihn die Stimme.
»Nimm die Maske ab, Peter.« Ein angenehmer Bariton mit unverkennbar metallischem Unterton. Die Stimme besaß Macht und ... er kannte sie. Er nahm die Augenbinde ab und blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Aus dem Schemen, den er sah, schälte sich eine Gestalt mit spitzer Kapuze, aus der ihn kalte Augen musterten. Die Person trug eine cremefarbene Robe, die die Körperkonturen verbarg.
»Setz dich.« Der Mann deutete auf den Stuhl, das einzige Möbel in dem Raum. »Dein großer Tag ist gekommen. Du wirst heute in den Bund der Wissenden aufgenommen.«
Brock verharrte in unbewegter Miene, während die Gedanken purzelten. Woher kannte er diese Stimme? Er vermutete schon immer eine Macht hinter der Burschenschaft. Doch mit einem solchen Mummenschanz rechnete er nicht. Die Maskerade ähnelte den Ku-Klux-Klan Gewändern. Aber hier gab es keine Schwarzen, oder wie immer man die heute nennen musste. Aber es gab Kommunisten Nazis. Besser hielt er die Klappe.
»Lass dir eine Geschichte erzählen. Unser Schatz ist nicht nur weltlicher Natur, sondern viel mehr. Die Grundlagen dazu wurden vor einhundertfünfzig Jahren gelegt. Kluge Männer schlossen einen Bund fürs Leben, in dem sie Wissen sammeln wollten. Dazu benötigten sie die fähigsten Köpfe des Landes. Was lag näher, als eine Burschenschaft zum Rahmen der Gemeinschaft aufzubauen. Jährlich erfolgte der Auslesungsprozess. In manchen Jahren genügte niemand den Anforderungen, in anderen maximal zwei. Insgesamt schafften es fünf Auserwählte, ich möchte sie Adepten nennen, zu dem Punkt, den du heute erreicht hast. Also alle dreißig Jahre eine Person, statistisch gesehen.
Wir sind keine Ritter des ›Feurigen Kreuzes‹, wenn auch unsere Uniform ähnlich ist. Ich werde Omniscientis genannt, was frei übersetzt Allwissender bedeutet. Einzig und allein ich habe das Sagen und lediglich mir sind die Adepten bekannt. Allein ich entscheide über Strafen bei Verstößen gegen meine Anordnungen. Das Brechen des Schweigegelübdes ist absolut tödlich. Deine Robe liegt dort.« Der Omniscientis zeigte zu einem Bündel in einer Ecke des Raumes. »Bei den Zusammenkünften trägst du dieses Gewand, und zwar nur dieses. Hast du Fragen?«
Peter schüttelte benommen den Kopf. Ihm brannten so viele Fragen auf den Lippen, dass er nicht wusste, wo er beginnen sollte.
»Gut.« Die spitze Haube seines Gegenübers nickte. »Einen Teil unserer Zeit verwenden wir zur Suche nach Schriftstücken. Angeblich liegt der Ursprung bei einem Druiden, der die Fähigkeit besaß, in die Welt der Toten zu gelangen. Die sogenannte Anderwelt. Fünf dieser Papiere haben wir in unserem Besitz. Eines fehlt noch …, es können aber noch zwei oder drei sein, die wir finden müssen. Du wirst dich mit Begriffen wie Samhain oder Hallstattzeit auseinandersetzen müssen, aber das kann ich bei deinem Intellekt und deiner Stellung in der Organisation verlangen.
Noch etwas: Gebe dich nie als Mitglied des inneren Kreises zu erkennen, auch, wenn du noch so sicher bist, dass du einen Adepten vor dir hast. Es könnte tödliche Folgen haben.«
Ehe er sich versah, verschwand der Mensch. Der Spuk ging vorüber, bevor er richtig begann. Unbehagen zog durch seine Knochen. Wie war das in der Literatur? Mann oder Frau verpfändet die Seele dem Teufel und überlistete ihn. Doch hier kam er nicht raus. Zumindest nicht mit List.
Wehmütig wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit. Damals wollte er keine Couleur tragen. Dafür bekam er jetzt die Kapuze. Die Welt war verrückt und seine Situation umso bedrückender, weil die Zeremonie vollkommen ohne Pathos geschah. Keine geheimnisvollen wabernden Dämpfe oder flackerndes Kerzenlicht. Ein Geschäft. Er schloss gerade ein Geschäft ab, bei dem er sein Leben einsetzte.
*
»Bei den drei Toten können wir davon ausgehen, dass der gleiche Täter, oder auch Tätergruppe, zugeschlagen hat. Die Verstümmelung der Genitalien bei den Nummern fünf und sieben, ich bleibe bei der Nummerierung, die der Täter vornahm, wurden nach dem Tod herbeigeführt. Bei Nummer zwölf wurde der Penis vorher auf den Boden genagelt. Sie haben die Berichte gelesen.« Claudia stand im großen Besprechungssaal vor den fünfzehn Beamtinnen und Beamten der Sonderkommission, die sie bei der Aufklärung des Falles unterstützten. Dazu Techniker der Spurensicherung sowie Kollegen der Gerichtsmedizin. »Bei der Todesursache gehen wir zunächst von Stromschlag aus, der zum Herzstillstand führte. Thilo vielleicht kannst du uns Genaueres sagen?« Sie nickte dem Mediziner zu.
»Eigentlich nicht.« Er stand auf und reckte seine dürre lange Gestalt. »Wir stehen im Moment auf dem Schlauch.« Er hob die Hand, um das aufkommende Gelächter zu unterdrücken. »In diesem Fall muss ich wohl meine Wortwahl überdenken. Der Stromschlag erfolgte jeweils über das Tattoo. Die Brandmarken besagen jedoch nicht, dass sie durch Elektrizität herbeigeführt wurden. Vielmehr sieht es so aus, als sollte das Mal herausgelöst werden.« Er ging nach vorn zu dem großen Monitor, der an der Wand befestigt hing und wischte mit den Fingern über verschiedene Symbole. »Hier ist das Hautstück von …«, er überlegte kurz, »Nummer fünf. Hier die Sieben und dort die Zwölf. Wie ihr seht, gibt es kaum Faserungen. Es scheint mehr, wie eine Stanzung, die fast genau auf Hautstärke eingedrungen ist.« Er vergrößerte das Tattoo von Nummer zwölf mit Daumen und Zeigefinger. »Wir gehen von einem Stromschlag an dieser Stelle aus, der nicht unbedingt ursächlich für den Eintritt des Todes sein musste. Ihr müsst euch also noch ein wenig gedulden. Die Toten sind zurzeit in Köln im gerichtsmedizinischen Institut und deshalb müsst ihr mich entschuldigen, weil ich nämlich offiziell schon am Autobahnkreuz Kerpen bin.« Er winkte kurz und ging zum Ausgang.
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