Lene antwortete nicht, sondern stand auf und zog wortlos ihre Kleidung aus. Vor dem Sternenhimmel zeichnete sich ihre schmale Silhouette ab, die bei ihrem frisch Vermählten nach wie vor den tiefen Wunsch auslöste, sie ganz und innig zu spüren. Während Thomas noch mit seinem Inneren beschäftigt war, lief Lene über den weichen Sand bis zur Hüfte ins Meer. Sie hätte eine Meerjungfrau sein können, dachte Thomas kurz, legte seine Sachen zu ihrer Kleidung und folgte Lene fast andächtig. Als er bei ihr war, glitten sie noch etwas weiter in die frischen Wellen, die ihre beiden Körper sacht umspielten. Behutsam fasste er nach ihrer schlanken Taille. Sie legte ihre Arme um seinen Hals, während sie sich zärtlich küssten. Das war der Mann, den sie liebte, immer lieben würde. Unwillkürlich schlang sie ihre Beine um seine Hüften, legte den Kopf in den Nacken und spürte ihn intensiv. Als sie die Augen öffnete, verlor sie sich in der Unendlichkeit des Sternenhimmels.
Konsterniert schaute er in die Runde der anwesenden Herren. Einen Augenblick zuvor hatte der drahtige Älteste ihm eröffnet, dass er keineswegs gedenke, irgendeine angebliche Vereinbarung einzuhalten, nur weil Himmelreich tatsächlich ums Leben gekommen war.
»Das können wir doch nicht machen. Der hat wie verabredet geliefert«, erwiderte der jüngere Gesprächsteilnehmer und wuchtete seine rundliche Figur aus dem tiefen Sessel. »Ist das hier einhellige Meinung?«, fragte er sichtlich echauffiert die anderen Anwesenden, ohne dabei jemanden direkt anzusprechen.
Die einen untersuchten peinlich berührt, wie voll ihre Gläser waren. Andere setzten dagegen eine kämpferische Miene auf und zuckten mit den Schultern, als ginge sie das Ganze überhaupt nichts an.
Dem dicklichen Vermittler des Deals brach vor lauter Nervosität der Schweiß aus. Was sollte er bloß seinem Studienfreund erzählen? »Aber wir waren doch alle der Meinung, dass dieser Weg der für uns sicherste wäre«, erinnerte er an die gemeinsam getroffene Entscheidung.
»Nein«, widersprach nun der Herr, der wie üblich in Nadelstreifen zugegen war, in einem kühlen, distanzierten Tonfall. »Ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, von Ihrem Geschäftspartner mit einem Kapitalverbrechen konfrontiert zu werden. Das ist geradezu absurd. Wir verhalten uns nicht wie die Mafia.«
»Das ist doch glatt gelogen«, brüllte ihn der nun wütend im Raum Umherirrende unter Aufgabe jeder Zurückhaltung an.
»Nicht in diesem Ton!«, wies ihn der Älteste zischend zurecht. »Wollen Sie, dass der ganze Club erfährt, worüber wir reden?«
Alle in der Runde nickten zustimmend. Der Rundliche griff sich an die Stirn und bemühte sich, seine Gedanken zu sortieren. Er steckte in der Klemme. Falls sich hier alle einig waren, hatte er keinerlei Handhabe, die Vereinbarung durchzusetzen. Es gab nichts Schriftliches und nur er hatte mit seinem Freund gesprochen. Seine Stirn begann zu glänzen. Am Ende verpfiffen die ihn noch, wenn er sich nicht fügte. Verzweifelt wagte er einen letzten Versuch, die Anwesenden umzustimmen. »Aber wir haben unserem Geschäftspartner unser Ehrenwort gegeben. Wollen wir in voller Absicht wortbrüchig werden?«
Der herablassende Blick des ältesten Herrn brannte ihm förmlich in der Seele. Sonst erntete er nur Schweigen und leichtes Kopfschütteln, als könnte keiner verstehen, warum er sich so aufregte. War das Schweigen letztlich nicht ein Hinweis, dass den einen oder anderen doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen plagen könnte? Vielleicht traute sich keiner, der Erste zu sein, der die offensichtlich ohne ihn abgesprochene Meinung bereit war zu ändern? »Wollen wir wirklich wortbrüchig werden?«, wiederholte er daher seine Frage in beschwörendem Tonfall, jeden im Raum eindringlich ansehend.
»Erstens habe ich niemandem mein Wort gegeben. Das waren ausschließlich Sie«, kam es nun schneidend von dem älteren Herrn, der sich ebenfalls erhoben hatte.
»Ich hätte nie für möglich gehalten, dass Sie sich auf die Argumentationslinie eines Winkeladvokaten begeben würden«, entfuhr es dem Dicklichen erneut lauter. Allerdings führte das ausschließlich zu einem Raunen in der Runde, das die Empörung darüber ausdrückte, wie er mit dem Älteren redete.
Der lachte dagegen nur spöttisch. »Rechtsanwälte hält man sich, mein Guter. Das habe ich seinerzeit selbst dem Vater meiner Schwiegertochter am Tag vor ihrer Trauung ganz offen kundgetan.« Kunstpause. »Der ist Anwalt«, fügte er dann süffisant hinzu und provozierte damit das gewünschte Gelächter, ganz der Souverän auch in dieser Situation. Und wieder an sein Gegenüber gewandt setzte er fort: »Unterstehen Sie sich, mich noch ein einziges Mal in dieser Weise anzugehen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Verfälschung der Wahrheit und der präzisen Darstellung dessen, was tatsächlich stattgefunden hat.«
Es war sinnlos. Und keiner der Anwesenden würde dem widersprechen. Resigniert musste er sich eingestehen, den Einfluss des Älteren bisher offensichtlich gravierend unterschätzt zu haben – ebenso wie dessen kaltblütige Berechnung. Desillusioniert stellte er sein Glas auf den Tisch und wollte bereits gehen, als der ältere Herr fortfuhr, während er ihm scheinbar umgänglicher seine Hand auf die Schulter legte.
»Ich bin noch nicht fertig. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Selbst Sie werden kein Ehrenwort brechen«. Tausend Fältchen zeigten sich, als er seinen Mund zu einem feinen Lächeln verzog.
Der Rundliche ließ sich von der freundlichen Geste aufhalten. »Wie darf ich das verstehen?«
»Nun«. Es folgte erneut eine Pause, um die Spannung der Zuhörer zu erhöhen. »Nun, man kann sein Ehrenwort nur einem Ehrenmann gegenüber abgeben.« Nochmals Pause. Alle in der Runde hingen wie gewünscht an seinen Lippen, obwohl es alles gestandene Männer waren. »Ihr Geschäftspartner ist aber nur eine Made, die indirekt an unserem unternehmerischen Geschick partizipieren will. Insofern hat der damalige Bundeskanzler Kohl auch das einzig Richtige getan, als er sich den Geldgebern ohne Einschränkung verpflichtet fühlte ...«
Er hörte nicht mehr weiter zu. Wie war er bloß in diese Runde geraten? Jetzt fehlte nur noch ein Hoch auf den Kaiser. Aber wenn er ehrlich war, hatte er über Jahre alles darangesetzt, ebenfalls dazuzugehören. Das Ergebnis war, dass er nun verteufelt in der Klemme saß.
Am Tag zuvor hatten Thomas Sprengel und Lene Huscher nochmals Magdalena Himmelreich im Krankenhaus besucht. Sie war inzwischen psychisch wieder stabiler. Das war sicherlich zu einem Großteil der Mutter zu verdanken, die sich trotz des eigenen Leidens in der Lage zeigte, den Schmerz ihrer Tochter aufzufangen. Bei ihr konnte sich Lena ganz offensichtlich auch fallen lassen. Thomas und Lene hatten den beiden versichert, zur Beerdigung zu kommen, wenn sie rechtzeitig Nachricht erhielten, so dass sie sich dienstlich entsprechend freimachen konnten. Die verbliebenen Tage waren wie im Fluge vergangen. Es hatte noch so manches nette Abendessen mit dem Ehepaar Dunkerbeek gegeben, mit denen sie an diesem Morgen das letzte Mal zusammen frühstückten. Sie hatten einen Tisch auf der überdachten Veranda bekommen, die von einem aufwendig geschnitzten Geländer eingefasst wurde. Direkt unter ihnen begann der Strand und erneut spiegelte sich die Sonne auf den türkisfarbenen Wellen in Ufernähe.
»Wie werde ich diesen Anblick vermissen«, seufzte Lene. »Ich darf gar nicht daran denken, dass wir morgen wieder im Heidelberger Schmuddelwetter ankommen.«
»Vielleicht liegt ausnahmsweise ein bisschen Schnee«, warf Thomas nur halbherzig ein. »Meinst du, ich könnte noch eine kleine Portion Speck verkraften?«, erkundigte er sich an diesem Vormittag bei Lene, nachdem er sich in den letzten Tagen zu ihrer Verwunderung diesbezüglich nahezu asketisch eingeschränkt hatte.
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