»Und das soll funktionieren?«, war Thomas Sprengel skeptisch. »Das kostet doch, wenn alle mehr Urlaub haben.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Philipp Dunkerbeek. »Die Urlaubstage wurden ja als Äquivalent zu einer Gehaltserhöhung vereinbart.«
»Ich gebe zu, so einen Arbeitgeber hätte ich auch gerne. Obwohl ich mich als Beamter prinzipiell mal nicht beschweren will. Wenn die Leute sich nur nicht immer außerhalb der Dienstzeit umbringen lassen würden«, brachte er die Runde zu einem Schmunzeln.
»Gut. Aber wo findet sich die neue Bedrohung?«, war Lene inzwischen sehr interessiert an diesem Thema.
»Sie können mitfühlende Reaktionen durch das Implementieren verschiedener Werte und Prozesse erreichen. Aber nicht nur gegenüber den Mitarbeitern, sondern auch gegenüber den Kunden ...«
»Kunden wollen immer alles und das auch noch am besten umsonst«, wurde er von Thomas Sprengel unterbrochen.
»Trotzdem. Nehmen Sie Banken, die Mikrokredite vergeben.«
»Die wollen ebenfalls an den Kunden Geld verdienen.«
»Sicher, sonst kann das Geschäft nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden. Wir müssen alle von etwas leben. Dennoch verzichten diese Unternehmer bewusst auf Gewinnmaximierung, die sie erreichen könnten, wenn sie sich auf eine zahlungskräftigere Zielgruppe ausrichten würden. Es ist doch so, dass die Entscheidung zur Vergabe von Mikrokrediten dem Wunsch entspringt, Kleinstgewerbetreibende zu unterstützen, um deren Auskommen zu sichern. Da spielt durchaus Mitgefühl eine tragende Rolle.«
»Klar. Und nun zu dem Unternehmen von Himmelreich«, führte Viktoria Dunkerbeek das Gespräch wieder zurück.
»Ja, der wollte ein Unternehmen gründen, das umfassend einem mitfühlenden Miteinander verpflichtet ist.«
»Aber ich sehe das Problem immer noch nicht, das Sie anfangs andeuteten«, fehlte es Thomas Sprengel in dieser Hinsicht an der nötigen Phantasie.
Herr Dunkerbeek lächelte verständnisvoll. »Ein Unternehmen, das aufgrund seiner herausragenden Arbeitsbedingungen die gefragtesten Mitarbeiter an sich bindet, könnte dadurch einen erheblichen Wettbewerbsvorteil generieren. Verknüpft mit einem Produkt und Verkaufsprozessen, die die Bedürfnisse der Kunden ernsthaft in den Mittelpunkt stellen, wäre dieses Produkt unschlagbar. Der Nachteil läge vermutlich in einem höheren Preis, den der Kunde aber vielleicht durchaus bereit wäre zu bezahlen, wenn das Image als »social player« neben der normalen Kundenbindung eine Form von Commitment weckt ...«
»Commitment?«
»Übersetzen Sie das in diesem Zusammenhang mit ›sich verpflichtet fühlen‹, aber im positiven Sinn«, erklärte er geduldig. »Um die Utopie zu Ende zu formulieren: Sollte sich dies in einer Branche durchsetzen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich mitfühlendes Wirtschaften auf das gesamte ökonomische Leben ausbreitet«, schloss er seine Erläuterungen ab. »Ich kann Ihnen das hier leider nicht im Einzelnen erklären. Das würde eindeutig zu weit führen. Hätten Sie Himmelreich einmal selbst dazu gehört, könnten Sie vielleicht eher verstehen, dass dieser Mann das notwenige Charisma gehabt hätte, diese Vision umzusetzen. Außerdem war er sicherlich dazu bereit, Abstriche am Gewinn zu machen. Und hier liegt das Problem der meisten anderen Unternehmer, Anteilseigner oder Manager: Sie hassen nichts mehr als Umstände, die ihre eigenen Einnahmen schmälern.«
»Das klingt mir doch sehr, ... wie sagten Sie, nach einer Utopie«, stellte Lene Huscher trocken fest, auch wenn sie den Ansatz Himmelreichs beeindruckend fand.
»Die Menschen dachten auch erst, dass die Eisenbahn verrückt machen werde«, warf Frau Dunkerbeek ein. »Ist das nicht immer so mit großen innovativen Ideen?«
Weder Lene Huscher noch Thomas Sprengel wussten darauf etwas zu erwidern.
»Es ist ja nicht so, dass nur Himmelreich sich mit dem Thema auseinandergesetzt hätte«, merkte Herr Dunkerbeek in das Schweigen an, »es gibt andere wie Kanov, Pavlovich oder Keltner, die sehr intensiv in dieser Richtung forschen, um nur ein paar zu nennen.«
»Sehr spannend«, befand Thomas Sprengel, wobei er vom Kellner unterbrochen wurde, der so umsichtig wie diskret nachfragte, ob noch Wein gewünscht werde.
Frau Dunkerbeek hatte die Gelegenheit gezielt dazu genutzt, das Thema zu wechseln. Ihr Mann sah sie kurz dankbar an, weil er doch noch davon befreit worden war, eine mögliche Sabotage diskutieren zu müssen. Im Laufe der weiteren Unterhaltung erzählte das ältere Paar den Flitterwöchnern, wie sie vor Jahren ihr Unternehmen mangels eigener Kinder verkauft hatten. Seither verbrachten sie die meiste Zeit in Berchtesgaden, weil sie festgestellt hatten, dass ihnen das Bergklima im Alter ausgezeichnet bekam. Das Städtchen hatte sich wieder gut entwickelt, nachdem ein Investor ein neues Hotel der gehobeneren Kategorie direkt im Zentrum eröffnet hatte. Sie selbst hatten sich ein Haus oberhalb des alten Kerns gekauft, von dem aus sie einen Blick über den Ort, aber auch über das komplette Bergpanorama von Kehlstein über Göll, Jenner, Watzmann und Hochkalter genießen konnten. Im Haus befand sich eine zweite, abgetrennte Wohnung, in der immer wieder Freunde zu Besuch kommen konnten, die aber auch den Zweck hatte, später vielleicht einmal für eine Pflegekraft zur Verfügung zu stehen, falls das notwendig werden sollte. Erst an dieser Stelle fiel dem jüngeren Paar wieder das Alter ihrer Gesprächspartner auf, in dem solche Überlegungen zunehmend an Relevanz gewannen. Lene streifte kurz der Gedanke, dass auch in diesem Zusammenhang Mitgefühl gefragt sein könnte.
Lene und Thomas waren noch an den Strand gegangen, nachdem sie sich sehr spät von den Dunkerbeeks verabschiedet hatten. Still saßen sie nebeneinander im warmen Sand und schauten in den Sternenhimmel. Ihr Plätzchen befand sich etwas abseits im Dunkeln der Palmen. Ein Spaziergänger hätte sie kaum ausmachen können, weil in dieser Nacht der Mann im Mond Kinder auf der anderen Seite der Erde erfreute.
»Was denkst du?«, fragte Thomas, nachdem sie eine ganze Weile schweigend die Sterne betrachtet hatten, die sich ganz klar am Himmel abzeichneten.
»Ach, so wie die Dunkerbeeks habe ich mir immer Eltern vorgestellt«, antwortete Lene mit einer Stimme, in der Thomas ein wenig Traurigkeit mitschwingen hörte.
Er nahm sie liebevoll in den Arm. »Das ist schon ein außergewöhnlich nettes Paar«, stimmte Thomas ihr zu. »Was hältst du von der Sache, die er über Himmelreich erzählt hat?«, wollte Thomas die Richtung ihrer Gedanken ändern, weil er aus Erfahrung wusste, dass ein weiteres Eingehen auf Lenes Stimmung alles nur noch schlimmer machte.
»Keine Ahnung. Himmelreich scheint ein echter Vordenker gewesen zu sein. Aber damit die Yacht explodiert, hätte man dort eine Bombe verstecken müssen. Ist das wahrscheinlich?«
»Kommt darauf an, ob es sein eigenes Boot war«, fand Thomas es nicht unter allen Umständen unmöglich.
»Ja, aber ich halte das doch für zu weit hergeholt. Zumal nicht annähernd klar ist, ob Himmelreichs Idee überhaupt Erfolg gehabt hätte«, blieb sie weiterhin eher skeptisch hinsichtlich der Spekulation, dass jemand seine Finger im Spiel gehabt haben könnte.
»Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte er ihr zu, bevor sie beide wieder verstummten.
Sie hörten den Wellen zu, wie sie langsam auf dem Sand ausliefen, eine, noch eine und wieder eine. Es war selbst zu der späten Stunde angenehm warm. Lene fühlte sich bei aller Melancholie an der Seite von Thomas über alle Maßen glücklich. Sie schmiegte sich enger an ihn und gab ihm einen zarten Kuss auf die Wange. Nach ihren Nasen fanden sich auch ihre Lippen, erst nur ganz behutsam, als könnte etwas zerbrechen.
»Hast du Lust, ein nächtliches Bad zu nehmen?«, flüsterte Thomas ihr ins Ohr.
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