Gleich nach den Krokussen und während des letzten Winkens der fünf- bis sechsstrahligen, himmlischen Leberblümchen grüßen kräftig-blaue, feinstrahlige Familienangehörige, die Windröschen den Frühling. Und wie könnten sie in Niederösterreich fehlen: die gelben Buschwindröschen färben weite Flächen ein, dicht gefolgt von den weißen Schwestern, den Großen Buschwindröschen, die zuerst den gelben den Vortritt lassen und erst einmal nur an den geschütztesten Orten zu blühen beginnen. Ihre große Zeit würde schon noch kommen, dann würden die Waldränder weiß leuchten, so zahlreich erscheinen diese Zarten, im Wind Zitternden. Sie finden sich ein an allen sonnigen Orten, wo sie über den langen Winter das verrottende Laub weich bedeckt gehalten hatte.
Fast zeitgleich wippen die Blausterne und die winzigen, blauen Traubenhyazinthen über Wochen im Wind. Von einer furchtlos frechen Wühlmaus (sicherlich von jener, die sich anscheinend mit Vorliebe von teuren Tulpenzwiebeln ernährt) wurden sie aus dem Vorgarten L.-M.'s an die entlegensten Stellen des Gartens vertragen, vielleicht als Notration dort versteckt?
Am Dienstag, dem 20. März, pünktlich zum Beginn des Frühlings (in astronomischer Hinsicht), öffnen sich eine Etage höher die ersten goldenen, höchst eleganten Kelche der alten Forsythie, jeder einzelne gekrönt mit vier schlanken Zinnen. Auch sie blühen bis in den Mai hinein, anfangs ganz allein auf dem Holze, dann umrahmt vom goldgrünen Blattwerk.
Die Haselnusssträucher sind ebenso wie die Erlen mit gelben Blüten-Fransen dicht behangen, aber erst am 22. März beginnen sich die jungen frischgrünen Blätter der Hasel als dem ersten Strauch zu entfalten. Dem Beispiel der Haselnuss folgen unzählige schmalblättrige Weidensträucher und Weidenbäume unten am Fluss mit ihrer feinen silbergrünen Belaubung. Weiden lieben dieses Land und L.-M. liebt das Land und die silbernen, biegsamen Weiden. L.-M.'s Heimat ist doch ein Land der Weiden.
Zum Zeitpunkt der Weidenblüte ist die gelb-blaue Zeit schon etwas verebbt, aber noch lange nicht vorbei, obwohl da schon die neue Phase angekündigt wird: die weißen kleinen Gänseblümchen lugen zaghaft aus der Wiese, als wollten sie das Terrain erkunden.
Beim Scharbockskraut beginnen am 23. März sowohl die weich gerundeten grünen Herz-Blätter als auch die acht schmalgeschnittenen goldenen Blütenblätter wie frisch lackiert zu glänzen, blenden geradezu den Betrachter. L.-M. hat tatsächlich ein Tagebuch über Blumen und Pflanzen geführt, weil es sie fasziniert, wie diese Wesen ihr Leben organisieren.
Die sattgelbe Sumpfdotterblume würde bald am Teichrand den Bewohnern zur Freude sein – den ganzen April wird sie die Wildbienen locken – und die Wiesen würden sich bald kräftig gelb färben, weil die sogenannten „Löwenzähne“ (Taraxacum sect. Ruderalia) gerne in Massen auftreten. Und dort neben der größten der drei Fichten steht der Huflattich stramm auf seinen kräftigen Stängeln und lässt seine dottergelben winzigen Knöpfchen-Köpfchen sehen, seine volle Entfaltung ungeduldig erwartend, denn die würde fulminant werden: wie kleine Sonnen mit unzähligen Strahlen verblüffen sie immer aufs Neue. Dann erst kommen die matten Blätter. Kinder benutzen sie im Spiel als Regenschirme, so mächtig und breit sind sie geraten. Die Kletten des Huflattichs bleiben im August an den Hosenbeinen hängen, alle Vorbeischlendernden zupfen sie verärgert ab und versuchen, sie von sich zu schleudern. Auf diese Weise gelangten wohl einst die Samen zu der Strauchrose (einem Kind der alten chinesischen Gartenkunst des Konfuzius) in den Vorgarten von L.-M. - dorthin, wo sie der Gärtnerin deswegen zum Ärgernis sind, weil sie von der rosaroten Königin nicht goutiert werden, denn fast jede Rose wünscht solitär zu stehen.
Aber die Frau verlor sich soeben in weit zurückliegenden Erinnerungen an die Frühlingszeit und an Urgroßmutters Erzählungen, während sie eigentlich nur die Wühlmaus „sonst wohin“ wünschen wollte. Sinnlos. Die Kleine ist stärker als sie. Leicht frustriert schlägt sie das schwarze Gartentürchen hinter sich zu. Das Schloss schnappt mit einem metallischen Klicken ein. Zusperren lohnt sich nicht, denn die NachbarInnen schauen eh aufeinander, man kennt sich, Diebe würden sofort als solche entlarvt werden (Ihr Diebe: Zinken sind hier sinnlos – und es gibt auch nichts zu holen).
Am Zaun von Marias Vorgarten beginnt stets die Nordic-Walking-Tour, führt am benachbarten, bereits abgeernteten und gepflügten Weizenfeld vorbei. Die Halmreste ragen stoppelig aus der aufgeworfenen, hellen - trotz des letzten Regens wieder staubig-trockenen Krume. Schon im Reifungsprozess haben die Weizenstängel die Farbe der Erde angenommen, aus der sie vor vielen Monaten emporgewachsen waren, um am Ende wieder eins mit ihr zu werden. Bald schon wird das Feld erneut bearbeitet werden, es wird geeggt. Dann wird jeder Mensch feststellen können, wie gut die „frische“ dunkle Erde duftet, genauso satt und mehlig nämlich wie das weiße Mehl, das gemahlen wird aus dem Korn, welches auf diesem Felde wuchs.
Der Acker ist schnell passiert. Die Stöcke schlagen rhythmisch auf den warmen, blank-gescheuerten Asphalt. Im nächsten Augenblick fliegt die kleine Gestalt einen großen Schritt vorwärts, während die Stöcke – über die Lederschlaufen an den Handgelenken baumelnd – für den Bruchteil einer Sekunde hinter sie geschleudert werden, nur um sofort wieder die nächsten Schritte kraftvoll zu begleiten. Den Oberkörper gerade halten! Brust heraus! Blick voraus! Diese Befehle hatte sich die Autodidaktin vor vielen Jahren - in den ersten Nordic-Walking-Stunden - selbst erteilt. Inzwischen sind sie ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Manchmal wird sie übermütig und betrachtet die Umgebung als wäre sie Hans-Guck-in-die-Luft. Ihren Walking-Takt hält sie aber schon aus Gewohnheit bei. Vier Schritte lang wird die weiche, vom kürzlich niedergegangenen, nächtlichen Regenguss gewaschene Luft eingesogen. Die Lungen füllen sich mit Sauerstoff und zugleich mit schierer Lebensfreude, L.-M. strahlt, lächelt, nickt, vielleicht murmelt sie auch ein „Herrlich“. Ein unbekannter Passant, der ihr letzthin begegnet war, hatte den Anlass nicht erkannt. Sein skeptischer Blick traf die Frau, darin inkludiert: Debilitätsvermutung - was sie mit einem breiten Grinsen quittierte. Bei der nächsten Begegnung würde er vermutlich einen weiten Bogen um sie machen - darauf könnte sie wetten...
Wie es sich für eine Walkerin gehört, richtet L.-M. den Blick wieder nach vorne und stellt fest, dass sie ihre rosa Brille aufzusetzen vergessen hat. Macht nichts, für später hat sie ja die schwarze Sonnenbrille eingesteckt. Vorbei eilend an den akkurat beschnittenen Ziersträuchern, die den Vorgarten einer jungen Familie schmücken, erreicht sie die Teichlandschaft Johannas und ihres Franz.
Eine eingeschworene Schar sympathischer, sehr intelligenter indischer Laufenten - (wie L.-M. sehr wohl weiß, denn darunter befindet sich ihr Gimli, der nach dem unerwartet frühen Tod seiner Gefährtin Major Carter zur alten Truppe zurückkehren durfte) hat hier ihr Heim zwischen den Blüten, Gräsern und Findlingen. Anmutig drehen sich alle Köpfchen synchron der Vorbeieilenden zu, schnattern aufgeregt-protestierend, fast hysterisch – und zwar alle zugleich, beäugen die Störung misstrauisch mit geneigten Köpfchen (man hat das Gefühl, sie machen alles synchron), erkennen wohl keine Gefahr im Störenfried und ignorieren schließlich die Frau.
Im allgemeinen ist ihre Vorsicht durchaus angebracht. Vorletztes Jahr wurden sie des Nachts in ihrem Stall, wo sie sich in Sicherheit wähnten und wo sie die Besitzer in Sicherheit glaubten, von einem ausgewachsenen Fuchs überfallen. Tatsächlich saßen sie in der Falle. Übel hatte der Wüterich die Enten zugerichtet. Eine von ihnen konnte danach den Kopf nicht mehr heben. Ihre unverletzten Gefährtinnen und Gefährten zeigten etwas, das nur Liebe sein konnte: sie pickten Maisschrot auf und legten es vor dem Schnabel der schwer Verletzten ab, schoben es noch ein wenig näher zu ihr hin, um die Gefährtin zu ermuntern. Das taten sie tagelang. Bis zum Tode blieben sie an der Seite der Sterbenden. So eine rührende Fürsorge erwartet der Mensch nicht im Tierreich. Wer davon hörte, der war ergriffen. Die Besitzer der Enten brachten es nicht über sich, erlösend einzugreifen.
Читать дальше