Falls es der Mittfünfzigerin wegen all der Pflichten, die ihr altersgemäß zufallen, nicht möglich sein sollte, hinaus zu gehen, oder wenn sie sich ganz unverschuldet den äußeren Umständen beugen muss, wenn etwa eine Anruferin zur unpassenden Zeit stört, wenn andere Aufgaben vorrangig erledigt werden müssen, ein Regenguss niedergeht, ein Orkan über die Ebene fegt, es an der Tür läutet, wenn es also nicht ratsam wäre, vor die Tür zu treten, dann wird die verhinderte Sportlerin von Unruhe erfasst, presst verbittert die Lippen zu einem Strich zusammen, bläht die „Nüstern“ und das laute Schnaufen versetzt die Menschen in ihrer Umgebung in Alarmbereitschaft. Die Angehörigen haben oft genug den „Grant“ der Unzufriedenen zu spüren bekommen, weshalb sie es gelernt haben, an solchen Tagen der Ehefrau und Mutter aus dem Weg zu gehen.
Heute aber ist ein guter Tag zum Gehen. Die Bedingungen sind geradezu optimal. Der helle Tag lockt. Ausnahmsweise ist es windstill im „Windkanal“, genannt Tullnerfeld. Nach Regen sieht es nicht aus. Die Gehwege sind verlassen um diese Zeit, die Walkerin hat freie Bahn.
Die Haustür und die Eingangsstufen liegen im Schatten. Der Frau geht durch den Kopf, dass sie hier leicht frösteln könnte, wenn sie die Vorfreude nicht so schön wärmen würde.
Im groben Edelputz der Mauer klebt neben der letzten Stufe eine fette schwarze Fliege, hineingeschmiegt in eine winzige Mulde wie in ein schützendes Nest. Erstarrt noch von der Kühle des Morgens, wartet sie auf die Sonne, die hoffentlich bald den Giebel umrundet haben wird.
Ein Spatz scharrt in der Regenrinne oberhalb der Haustür. Zumindet vermutet L.-M. dies, denn zu sehen ist er nicht. L.-M. starrt vergeblich hoch.
Dazu muss man wissen, dass die südliche Dachtraufe vor etlichen Jahren von den Spatzen okkupiert worden war, während die nördliche jahrelang ein Schwalbenpaar besetzt hielt – bis zu jenem traurigen Tag, als der grau-getigerte Kater Moritz eines der flügge gewordenen Jungen gepackt hatte. Die Schwalbeneltern flogen laut kreischend über Moritz' hin, sodass sein Frauchen alarmiert und bestürzt über so viel Verzweiflung in deren Stimmen in den Garten rannte. Empört zwang sie das gefräßige Maul auseinander, sodass ihm die Beute entfiel. Der räuberische Kater wurde kurzerhand ins Haus gesperrt. Noch heute hofft sein Frauchen, dass das Vogeljunge die Attacke überlebt hat. Wenn auch die Rettung rechtzeitig erfolgt sein sollte, die Schwalben verließen das Nest und kehrten niemals wieder. Die menschlichen Bewohner vermissen ihr Zwitschern bis heute, das leere Nest macht traurig...
Verkehrsgeräusche vermisst hingegen kaum jemand. Manche hört man - in unserem Fall sollte es korrekterweise heißen „hört frau“ - allerdings dann doch ganz gerne. Von der nord-westlichen Umfahrungsstraße oberhalb des Dorfes grollt brodelnd das Echo eines Vierzylinder-Viertaktmotors herüber. L.-M. schlussfolgert messerscharf, dass das Tempo kurz gedrosselt wurde, aber gleich wieder eine Hand im Lederhandschuh am Gas dreht. Das Geräusch „elektrisiert“ so manche(n), dabei denkt die Frau schmunzelnd an ihre beiden Biker-Schwager Walti und Ernstl, denen nicht einmal erlittene Unfälle das Fahrvergnügen schmälern konnten. Sie selbst, die stolze Tante einer motorradbegeisterten Nichte - identifiziert die Motorenklänge ohne Schwierigkeit und ohne jeden Zweifel als ein typisches Motorrad-Crescendo. Die schöne blonde „Doro“ donnert auf ihrer Kawasaki Z750 im günstigsten Fall (und wenn es erlaubt ist) mit 170 Kilometern in der Stunde über den Asphalt, stets in Begleitung ihres Gefährten Max oder anderer Biker, was auf ein zwanghaftes Rudelverhalten schließen lässt. Das tiefe Grummeln, das sich von der Ortschaft Einsiedl her nähert - so untypisch einsam, verstummt vor der Gefährlichkeit der scharfen Linkskurve – wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und nochmals brüllt es hohl aus dem Schlund des Motors auf, bis das klagend-tiefe „G“ eines „wilden Stiers“ die Tonleiter bis zum „A“ hinauf klettert, innehält und dann ansteigt bis zum „H“. Der Ton wird gehalten - oder unmusikalisch ausgedrückt, es wird die Geschwindigkeit beibehalten. Onkel Walti - Vater von Doro, Pate von L.-M.'s Sohn Jozi, liebster Onkel der Welt und nebenbei begehrter Automechaniker der Familie - würde anerkennend nicken: „Der Motor läuft wie ein Zeiserl 1“. Die schwere Maschine auf der B 19 zieht eine Geräuschkulisse hinter sich her, die mit ihr in Sekundenschnelle hinter dem Purgstallberg entschwindet.
Währenddessen folgt ihm, beziehungsweise kreuzt sich mit ihm ein eierndes Pfeifen, das vermutlich entweder von einer Kardanwelle erzeugt wird oder den schwingenden Profilstollen der mächtigen Reifen eines Lastkraftwagens entstammt, dessen Fahrtrichtung für L.-M. nicht mit hundertprozentiger Sicherheit eruierbar ist. Ähnlich einem hellen Jodler hoch droben in den Bergen, verteilt sich dieses Reifen-Lied genauso unvermeidbar im Äther, wird herab getragen von der Straße auf der Anhöhe, rieselt herab auf Dächer und Menschen wie Nieselregen, der mit dem Wind kommt, böig vertragen und zerrissen. Die Klänge legen sich auf die Haut aller Empfindsamen, werden eingefangen von großen und kleinen Ohrmuscheln, berühren verschiedene Rezeptoren, schwingen durch Membrane in jeden Tropfen des lebendigen Seins, verebben im Glas der Fenster, in den Steinen am Weg.
Immer aufs Neue branden diese oder jene Geräusche auf und machen die Welt zu einem lauten Ort. Vollkommene Stille suchen die Menschen fast vergeblich, manche auf den Gipfeln der Alpen, der Dinariden, der Karpaten, der Ardennen, der Pyrenäen – um nur einige zu nennen, die von L.-M.'s Schwiegervater Peter bestiegen worden sind. Stille, so meinte er einmal, ist ein relativer Begriff. Das Heulen des Windes stört die Stille nicht, die er sucht, Sirenengeheul aber schon - allein vom Menschen beziehungsweise dessen Technik produzierte disharmonische Brandung lehnt er vehement ab. Die Freizeit-Sportlerin würde trotzdem in Bälde mit dem Klackern ihrer Nordic-Walking-Stöcke zur Geräuschkulisse ein wenig beitragen...
Der Himmel zeigt ein verwaschenes Blau, vermischt mit viel breitflächig aufgetragenem Weiß. Seine leere Weite wirkt sich auf das Gemüt der Walkerin stets befreiend aus. Manche Menschen würden es mit Pathos ausdrücken: “Es geht einem das Herz auf“.
Die Strahlen der Sonne dringen durch die Poren der bloßen Arme und wärmen die „alten Knochen“. Ein wenig bedauert die Frau, dass ihre Haut nie richtig braun wird – so knusprig „geröstet“, wie es von den meisten modebewussten EuropäerInnen schon lange bevorzugt wird. Ihr blieb das bisher verwehrt. Sie nämlich gehört der aussterbenden Spezies der Goldenen an, so wie ihre Schwester auch. Dementsprechend schimmern die Härchen auf dem rechten Unterarm kupferblond im östlichen Licht, ähnlich wie das kurze, leicht gewellte – zumindest auf der Oberfläche schimmernde Haupthaar, wenn auch zuenehmend der Natur durch die Kunstfertigkeit der Frau Anita, einer tüchtigen Friseurin aus der nahe gelegenen Stadt Tulln (aus dem Frisörsalon Judith) etwas nachgeholfen wird. Der Un-Farbe Aschblond im Unterhaar muss alle paar Monate entgegengewirkt werden, denn irgendwann hatte die Natur beschlossen, ein wenig von dem Weizenblond der Jugendjahre verblassen zu lassen. Wahrscheinlich deswegen, weil etwas davon für die Nachkommen reserviert werden sollte, überlegt L.-M.. Fast das ganze natürliche, glänzende, leuchtende kupfrige Blond hatten nämlich ihre beiden Kinder zugeteilt bekommen und hatten es prompt während der ersten zehn Lebensjahre „aufgebraucht“. Wer weiß, wofür das gut war, überlegt die Mutter. Die Nachkommen wollen ohnehin nicht in Allem den Eltern gleichen.
Nimmt man die hellste der Frauen (eine Freundin seit Kindertagen) als Beispiel – Key mit ihren großen, blauen Augen, dem blassen Teint - jedoch keinesfalls mit blassem Wesen – im Gegenteil, sie ist eine Frau mit einer ungewöhnlich kraftvollen Ausstrahlung, so könnte man erwarten, dass die Töchter der „Schneekönigin“ der Mutter Haar geerbt hätten und damit hoch zufrieden wären. Doch weit gefehlt - die Mädchen entschieden sich prompt für dunkel gefärbte Locken, kaum dass sie den Kinderschuhen entwachsen waren.
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