Die Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend haben mich einschneidend gezeichnet. Die Frage ist, ob einen solche Dinge stark machen oder ob sie einen, im Gegenteil, sogar noch dünnhäutiger und zerbrechlicher werden lassen – wahrscheinlich beides.
In manchen Situationen bin ich heute eine starke, selbstbewusste, schlagfertige Frau, die sich nichts mehr gefallen lässt. Mit meiner Wucht und Härte schieße ich auch schon mal übers Ziel hinaus und stoße andere beinahe kaltherzig vor den Kopf. Bisweilen grenzt es an Jähzorn. Als Opfer verinnerlichst und übernimmst du, ohne dein bewusstes Wissen und oft gegen deinen bewussten Willen, Persönlichkeitseigenschaften, Werte und Verhaltensweisen deiner Angreifer und machst sie zu Anteilen deiner selbst. Vor allem traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, bei denen das Maß der erlebten Ohnmacht und Abhängigkeit besonders groß ist, führen zur Ausbildung dieser Reaktion. Sie dient dem Schutz des eigenen psychischen Systems und hat den Charakter einer letzten Notbremse vor einem drohenden Zusammenbruch des Innern angesichts überwältigender Attacken und nicht integrierbarer Emotionen. Psychisch von hoher Bedeutung, um hilfsweise die Funktionsfähigkeit des Selbst aufrechtzuerhalten, wirken die Folgen der Identifikation mit einem Aggressor sich tatsächlich jedoch in hohem Maße schädigend auf die seelische Integrität und das Wohlergehen des Inneren aus, da die Entwicklung persönlicher Autonomie unterdrückt wird. Als Betroffener bist du somit häufig nicht bei dir und erschrickst mitunter ob deiner eigenen Handlungen. Entscheidend sind allgemein die Heftigkeit der Überwältigung und die Dauer und Schwere des Traumas. Grundsätzlich geschieht eine Identifikation mit einem Feind als Abwehr gegenüber der nicht vorhandenen Fähigkeit des Leidtragenden, Angriffe auf die eigene körperliche und psychische Unbescholtenheit zu verstehen und gefühlsmäßig einzuordnen. In der Folge kommt es häufig zu schweren Störungen auf der Beziehungsebene, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder gesteigerter, nach außen gerichteter Aggressivität.
An einem Sonntagnachmittag bin ich von einer kurzen Ausfahrt nach Hause gekommen und wollte mein Auto auf seinen gewohnten Platz in der Tiefgarage stellen. Nun blockierte aber ein vor dem Garagentor geparkter schwarzer sportlicher Kleinwagen den Durchgang. Obschon ich mich unverzüglich leicht aufregte, ging ich davon aus, dass die Person gleich wieder zurück sein würde. Als ich merkte, dass dem nicht so war, begann ich ungeduldig auf die durchdringende Hupe meines Japaners einzudrücken. Ich steigerte mich immer mehr hinein. Sonntag war schließlich mein einzig wirklicher Ruhetag in der Woche! Den sollte mir keiner so dumm und unnötig verkürzen! Inzwischen guckten die Nachbarn und keiften, sich mit mir verbündend, ebenfalls über den wenig schlauen Parker. Als dieser nach einiger Zeit endlich zurückkam, machte er, als er mich sah, auf dem Weg zu seinem Wagen eine entschuldigende Geste und lächelte verlegen. Er war ein junger klein gewachsener Italiener. Ich jedoch war keineswegs versöhnlich gestimmt. Dazu kochte ich innerlich bereits viel zu sehr. Ich öffnete meine Autotür und schrie ihm unaufhaltbar in lautestem und provokativstem Tonfall alle Schande entgegen. Nun tat den gaffenden Anwohnern schon fast der Falschparker leid. Dieser verschwand wortlos und geduckt in sein Fahrzeug und machte sich schleunigst aus dem Staub.
In vielen anderen Momenten jedoch, bin ich wieder so zerbrechlich wie ein rohes Ei. Ich habe das Gefühl als ob mein Herz und meine Seele allein durch eine ganz dünne bröckelige Wand geschützt seien. Wer meine Vergangenheit nicht kennt, kann mein Wesen und meine Verhaltensweisen nicht nachvollziehen. Ich werde oft scharf kritisiert und getadelt dafür.
Doch verurteile einen Menschen nicht, bevor du seine Geschichte kennst!
2 Geister und Parallelwelten
Ich will ganz ehrlich sein, dadurch dass mich andere jahrelang ausgegrenzt hatten und mich so erbarmungslos spüren ließen, dass ich nicht dazu gehörte, begann ich mich mit der Zeit wirklich als etwas Besonderes zu fühlen. Als „nicht normal“ betrachtet zu werden, nicht dem Durchschnitt, der Masse, zu entsprechen, ist doch im Grunde genommen ein Kompliment! Die Arroganz, die mir erst irrtümlich unterstellt wurde, schlich sich ein Stück weit in mir ein. In mancher Hinsicht ist es ein Schutzmechanismus. Aber ich muss aufpassen mit Sprüchen, die jene Überheblichkeit verraten. Sie zerstören Freundschaften und befördern mich umso mehr ins Abseits. Es ist ein Prozess der Selbstzerstörung, für den ich große Scham und Abscheu vor mir selbst empfinde.
Ich bin sehr kreativ, was ich für eine Art außergewöhnliche Intelligenz hielt. Ich konnte mich seit jeher gut an meine Träume erinnern. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich einen recht unruhigen Schlaf habe und zwischendurch immer wieder aufwache. Das stört mich allerdings selten. Wenn es sich nicht um Albträume handelt, finde ich es wundervoll des Nachts in schillernde, schöne Traumwelten zu entfliehen und ein zweites Leben neben der Realität zu genießen. So kann ich unerfüllbare Ziele und Bedürfnisse imaginär ausleben und unerträgliche Situationen verdrängen. In dieser Ersatzwirklichkeit herrscht eine Umgebung, in der die faktischen Hemmnisse für meine Hoffnungen nicht mehr vorhanden sind. Ich wünschte mir, ich könnte meine angenehmen Träume aufzeichnen und sie mir später wieder ansehen. Im Mädchenalter träumte ich von einem hübschen Haus aus früherer Zeit. Es beherbergte einen verwunschenen Dachboden über den man magische Fantasiewelten mit verzauberten, betörend duftenden Gärten voll von üppigen Blumenbögen, verspielten Springbrunnen und Schaukeln, bunten melodischen Piepmätzen und wundersamen orientalischen Figuren in farbenprächtigen mit Perlen und Edelsteinen besetzten Gewändern bereisen konnte.
Gerade jene Bilder und Welten hatten mich als Kind zum Schreiben und Bildnerischen Gestalten geführt. Die Kreativität sprudelte und war Balsam für die Seele, besonders in den schwierigen, traurigen Zeiten. Wenn ich unglücklich und verletzt war, schrieb ich alles nieder, denn sprechen konnte ich darüber in Kindertagen nicht. Eine Geschichte ist wie das Gemälde eines Künstlers, welches immer wieder durch Pinselstriche ergänzt und erweitert wird, wächst und neue Schattierungen erhält. Willst du irgendwann zu einem Ende kommen, musst du es bewusst beschließen, ansonsten könntest du ewig fortfahren. Bereits als Kleinstkind hatte ich, kaum konnte ich einigermaßen mit Buchstaben umgehen, versucht, meine Fantasien und Träume anhand erster Worte und Illustrationen originell zu Papier zu bringen. Später las ich gerne dicke Romane und Biografien und baute damit meinen noch unreifen Wortschatz aus. Für meine ideenreichen Zeichnungen und filigranen Bastelwerke erhielt ich reichlich Lob und Anerkennung. Besonders gerne erstellte ich bunte Süßigkeiten-Attrappen, wie einen Eisstand, Tortenstücke oder Pralinen aus diversen Materialien, die ich liebevoll bemalte. Sowohl die schönen Farben wie auch die herzerwärmenden Geschmäcker von süßen Naschereien waren für mich Symbol von Wohlbehagen.
Meine Träume sind teilweise so intensiv, dass ich in den ersten Momenten des Aufwachens nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden kann. Ich fühle und schmecke das Gesehene wie in echt.
Einmal lag ich in meinem Bett, mich gerade in einer Wachphase befindend. Jedenfalls hatte ich meine Augen weit geöffnet und sah wie das silberne Mondlicht auf das vertraute Mobiliar meines Schlafzimmers fiel und es in einen mystischen Glanz tauchte. Alles war wie immer. Es war ganz still. Ich hoffte, bald wieder einschlafen zu können. Es war schwül und ich war nicht mehr ganz zugedeckt. Ich hatte meine Daunendecke zwischen die Beine geklemmt. Plötzlich hörte ich beschwingte, springende Schritte durch die Wohnung über den Parkettboden rennen und nahm schließlich einen gespenstisch rauschenden Windhauch neben mir wahr, dann berührte etwas meinen Arm – eine warme, trockene Hand. Ich spürte es ganz deutlich. Mein Herz setzte für einen Moment aus und klopfte dann so hart gegen meine Brust, dass es schmerzte. Ich befand mich in einem Schockzustand. Mein ganzer Körper war erstarrt. Ich getraute mich kaum mehr zu atmen. Ich hatte nicht geträumt. Ich war wach – die ganze Zeit schon. Ich war mir sicher. Da war wirklich etwas, doch ich sah niemanden. Ich presste meine Augen ganz fest zu, verkroch mich ungeachtet der Hitze unter der Decke und zog sie bis über meinen Kopf. Ich schwitzte. Irgendwann, nach längerer Zeit, schlief ich wieder ein.
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