Der Mensch lässt sich treiben und die Dinge laufen und versucht die angesichts dieser Haltung unausweichlich auftretenden Ungleichgewichte, Probleme und Gefahren, wie beispielhaft - und bei Weitem nur einen Ausschnitt wiedergebend - Überbevölkerung, Verstädterung, Ressourcenverbrauch und –verschwendung, Umweltzerstörung und -verschmutzung, Müllberge auf Land und Meer, Erderwärmung, Immigrationen, Turbokapitalismus, viele soziale Brennpunkte wegen extremer wirtschaftlicher Unterschiede, hohe Schnelllebigkeit mit immer kurzfristigeren Zeit- und Planungshorizonten und Produktzyklen, etc. (alles Felder, die an der Wurzel und demnach an der identitätsgemäßen Ursache angepackt und gelöst werden müssten, um sie in den Griff zu bekommen) erneut mit symptomgemäßen und notdürftigen Behelfen, Provisorien, Improvisationen, falschen/ungenügenden Kompromissen oder per Verdrängung und Rationalisierung (Stichwort: Schönfärberei, Selbstbelügen) zu bewältigen.
Es regiert das fatalistische Prinzip der Hoffnung, gespeist einerseits aus dem Rückblick in die Vergangenheit nach dem Motto „Untergangsprophezeiungen und –szenarien hat es schon zahlreiche gegeben und die Menschheit existiert noch immer, weshalb sollte es also diesmal anders sein“ und andererseits vom unerschütterlichen Vertrauen in wissenschaftliche/technische Fortschritte, die nachhaltige Verbesserungen erzielen sollen.
Die Rückschau auf die Vergangenheit ist zwar vielmals im Leben hilfreich und entsprechende Rückschlüsse sind durchaus sinnvoll, jedoch gleichfalls verklärend und obendrein dank der heute bestehenden Dimensionen aller aufgeführter Problembereiche nicht zielführend und angebracht. Die zugrunde liegenden Parameter (u. a. Weltbevölkerungszahl und damit automatisch verbundener Ressourcenverbrauch, Globalisierung, weltweite Informations- und Datenvernetzung, Intensität der Konsum- und Wettbewerbsausrichtung, extrem kurze Produktaktualität) haben sich dermaßen massiv zu den vergangenen Jahrzehnten gewandelt, dass eine vergleichbare Übertragung und eine aussagekräftige Projektion früherer Erfahrungen auf kommende Entwicklungen – gelinde gesagt – falsch ist und irreführend wäre.
Anders ausgedrückt: Mit den neuen Zahlen hat sich auch die Formel (Grundlagen) geändert und kann nicht wie gehabt beibehalten werden. Es ist folglich nicht ausreichend, sofern sich ausschließlich die Variablen der Vergangenheit dem aktuellen Stand anpassen, weil die alten Gesetzmäßigkeiten ihre Gültigkeit verloren haben und abermals definiert werden müssten.
Nebenbei: Die Rückschau auf die Vergangenheit wird ferner stets gerne bemüht, da sie in Anbetracht des bereits Geschehenen überschaubar, eingrenzbar und bekannt, daher keine ungewisse, unkalkulierbare und angstbesetzte Unbekannte ist und so dem Menschen Sicherheit vermittelt (Stichwort: Vergangenheit als identitätsstützender Faktor). Diese vermeintliche, vorgaukelte Sicherheit erweist sich in diesem Zusammenhang als trügerisch.
Die Wissenschaft und Technik, die im Kern zudem Teil des Problems sind, sollen paradoxerweise für die Lösung der Probleme bereitstehen. Die Größenordnung der gegenwärtigen Probleme – und hier geht es einzig um die an Fakten festzumachenden Probleme und noch nicht um die psychischen Problemfelder des Menschen – ist so immens, dass die Wissenschaft und Technik, einer überforderten Feuerwehr gleich von Brandherd zu Brandherd, von Notfall zu Notfall eilend, der Entwicklung pausenlos hinterherläuft. Bestenfalls können gewisse Eindämmungen erreicht werden, ohne an der wirklichen Tragweite, dem Ausmaß und den Auswirkungen etwas grundlegend bessern zu können. Die selbst geschaffenen Brandherde werden de facto laufend größer, intensiver und gefährlicher und haben sich mittlerweile zu einem riesigen Flächenbrand ausgebreitet (von einer Krise in die nächste, noch größere Krise, zur weiteren, auf den herrschenden Krisen aufbauenden Krise, usw.).
Die Folge dieser Problemverlagerung in die Zukunft und damit auf die nachfolgenden Generationen impliziert nicht nur ein diesbezügliches Versagen und einen hochgradigen Egoismus der kontemporären Gesellschaften, vielmehr ist sie im höchsten Maße unverantwortlich. Diese nicht nachhaltigen Lösungsversuche und Unterlassungen ziehen automatisch eine gebührende Potenzierung der jeweiligen Situation nach sich, die dann nicht mehr beherrschbar ist und dergestalt zur Eskalation, zur unkontrollierbaren Verselbstständigung und letztlich ins Desaster in Form der Kollabierung der gesellschaftlichen und ökologischen Systeme führt.
In der heutigen Zeit kommt zur tatsächlichen Lebenswirklichkeit darüber hinaus eine fiktive und demgemäß künstliche Komponente hinzu, die in den neuen medialen Möglichkeiten begründet ist. Viele Menschen verbringen einen umfangreichen Teil ihrer Zeit in virtuellen Welten, verlieren sich buchstäblich darin und können keine klare Trennung zu den realen Lebensumständen ziehen. Das Interesse am und die Anziehungskraft des Virtuellen einerseits und deren Flucht- und Suchtcharakter auf der anderen Seite basieren gleichwohl auf einem identitätsgemäßen Defizit, das mittels Traum- und Fantasievorstellungen mit selbstwertbestärkendem (z. B. Darstellung von Macht- und Gewaltausübung und deren Projektion auf die eigene Person) oder verdrängendem (Ablenkung von und Vergessen der privaten unbefriedigenden Lage) Wesen versucht, die existierende Schwäche zu kompensieren.
Neben den eigentlichen psychologischen Antrieben für die Aufrechterhaltung des Istzustands der tatsächlichen Lebenswirklichkeit spielen zusätzlich zwei weitere symptombasierte Prozesse eine Rolle, die das jetzige, auf Konsum, wirtschaftlichen Erfolg (Reichtum), Wachstum, Wettbewerb und Ich-Bezogenheit ausgerichtete gesellschaftliche Gefüge stützen.
In der Quintessenz entspringt das scheinbar kühl kalkulierte Vorteilsdenken genauso psychisch motivierten Kompensationserfordernissen. So bezeichnete interessierte Kreise – und dies ist keine klassenkämpferische Parole oder Attitüde, hingegen stellt die einfache und nachzuprüfende Realität dar -, Großunternehmer, Industrielle, Investoren, Wirtschaftsführer, Lobbyisten/Interessensvertreter, Politiker (sprich die selbst ernannte Elite bzw. Führungs-/Oberschicht der modernen Gesellschaft), sehen sich als Profiteure der tatsächlichen Lebenswirklichkeit, in der der Mensch sein Leben regelrecht nicht einfach lebt, indessen konsumiert und reichlich lenkbar ist.
Unter anderem durch subtil – unter Berücksichtigung und mithilfe psychologischer Kenntnisse – beeinflussende Methoden, medialer Suggerierung wie Soufflierung und Idolbildung/-stilisierung wird festgelegt, was – banal ausgedrückt - toll und erstrebenswert ist, natürlich zum Vorteil des Establishments in Form von wirtschaftlichem Erfolg, Machtausübung, Profilierung, Dominanz, usw.
Jene Führungsschicht ist vordergründig der Gewinner der symptomgesteuerten, auf Ersatzbefriedigungen gebildeten, allgemeinen Lebenswirklichkeit. De facto sitzt sie jedoch hinsichtlich der Identitätsproblematik im gleichen Boot und ist deshalb mit denselben diesbezüglichen psychischen Problemen (und auch Ängsten), wie alle anderen Menschen lebenslang konfrontiert, und hat mit diesen unterschiedslos zu kämpfen, zumal das Zudecken über die angeführten ersatzhandlungsgeprägten Errungenschaften nicht nachhaltig funktioniert.
Kurz gesagt: Weder mit Geld noch mit Macht kann sich der Mensch letztendlich von seiner identitätsgemäßen Problematik freikaufen und freimachen, nur stehen der sogenannten hohen Gesellschaft eine größere Palette an Kompensationsmöglichkeiten mit (zumindest anfänglich) intensiveren Wirkungsgraden zur Verfügung.
Der zweite Aspekt in diesem Zusammenhang ist der in vielen Bereichen dialektische Aufbau der wirtschaftlichen Abläufe und die damit verbundene Konterkarierung der Werte, die die ursächliche Lebenswirklichkeit ausmachen und definieren.
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