Ist der Täter verwirrt (hier ist nicht ein angeborenes intellektuelles Defizit gemeint) oder von Drogen benebelt, dann ist die Zurechnungsfähigkeit offenkundig verringert oder gänzlich nicht vorhanden. Beide Zustände haben jedenfalls immer ihre Vorgeschichte, die sich wiederum mit den persönlichen psychischen Deformationen im Kontext befindet. Normalerweise muss jedoch der für die Gesellschaft wahrnehmbare bzw. zu erkennende Zwischenschritt der scheinbar bewussten Außerkraftsetzung des klaren Verstandes existieren, um dem Täter eine Minderung seiner Eigenkontrolle zuzubilligen.
Die alleinige Haftung für das Handeln wird am Täter festgemacht, die Schuld kann konkret auf eine Person einge- und derart begrenzt wie eindeutig zugewiesen werden, vielleicht werden noch die von diesem Menschen selbst erlittenen Kindheits- und Jugenderlebnisse erwähnt, indes werden die generelle Verknüpfung von Symptomen und Ursachen, die schließlich zum Exzess geführt haben, entweder nicht erfasst oder in der Bewertung in absolut unzureichendem Umfang berücksichtigt.
Die Zuordnung der Verantwortung fällt natürlich leicht, es muss nicht tiefgründig und umfassend analysiert werden, nach kurzer Zeit kann man als selbst nicht direkt Betroffener das Geschehene schnell abhaken, wieder zum Alltag über- und der gesellschaftlichen Mitverantwortung – und somit der Eigenverantwortung aller Gesellschaftsmitglieder – aus dem Weg gehen. Die Gesellschaft und jedes einzelne, die Gesellschaft bildende Mitglied, wird von jeder indirekten, Vorgänge auslösenden, Mitverantwortung freigesprochen.
Die Wut und Aggression soll sich ausschließlich gegen den Täter richten, alles andere erhält die Absolution oder wird in endlos langen Prozessen und Haarspaltereien dermaßen weich gekocht und zerfleddert, dass keine substanziellen und folglich nachhaltigen Erkenntnisse übrig bleiben. Die ursprünglich krankmachenden gesellschaftlichen Parameter bleiben unangetastet und demgemäß bewahrt.
Sobald die Gewalttat ausnehmend brutal und abscheulich ist, ergo das symptomgemäße Produkt dergestalt überwältigend ist, dann rückt die Ursache automatisch in den Hintergrund. Das entstandene Leid – beim Opfer (wenn es überlebt hat) und bei den Angehörigen – ist präsent, nachvollziehbar, verständlich und greifbar, die wirklichen Triebfedern für das Verbrechen nicht.
Aber diese Art der Schuldzuweisung und -begrenzung wird der ganzen Problematik in keiner Weise gerecht – ebenso den Opfern nicht, vor allem den zukünftigen -, da die Abkopplung, hier Täter, hier die Tat und dort die Schuld und Verantwortung, nicht den Realitäten entspricht und die wahren Gründe vernebelt. Die nicht gegebene bzw. durch die eigenen Eltern/Familie und das soziale Umfeld verhinderte Entwicklungschance hat solch fundamentale, zu den eigentlichen Grundbedürfnissen diametral stehenden und wirkenden, Schädigungen provoziert und gezeitigt und so das Feld für die Tat bereitet.
Der Mensch wird ausnahmslos nicht als Gewalttäter, Vergewaltiger, Pädophiler, Mörder, Monster, etc. respektive mit inneren Dämonen geboren, sondern entwickelt sich in diese Richtung, wenn familieninterne und umweltexterne Konstellationen derart zusammenspielen, dass tief greifende psychische Anomalien entstehen.
Der Täter wurde auf einen Weg gelenkt, den er – aus der Retrospektive betrachtet - gehen musste, weil er dazu von seiner Andersartigkeit (psychische Veränderung zum wesenhaften Zustand laut der menschlichen Grundveranlagung) gedrängt wurde (Stichwort: existierender Impetus anhand erlebter Frustrationen und Traumata) und nicht einfach – durchdacht, geplant, kühl abwägend und in seiner Entscheidungsfindung frei und unabhängig – immer schon gehen wollte.
De facto ist ein Täter nicht Herr seiner selbst, hingegen aufgrund seiner psychischen Deformation fremdgesteuert (fremd, weil die Deformation nicht der originären menschlichen Natur gerecht wird).
Das psychische, biochemisch strukturierte Defizit arbeitet unermüdlich gegen den Betroffenen, ohne dass dies willentlich fundamental von ihm beeinflusst werden kann. Sinnbildlich befindet er sich im Kampf mit seinen inneren Dämonen.
Die Feststellung und das Eingeständnis, dass es keinen Täter gibt, der nicht selbst Opfer war, ist eine Tatsache, die dem Opfer und deren Angehörigen zweifellos nichts von ihrem erlittenen Leid nimmt, die allerdings unabdingbar sind, sofern die vorhandenen Gegebenheiten verändert werden sollen, um Fortschritte bei der zukünftigen Vermeidung von Gewalttaten zu erreichen und damit auch die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten (Stichwort: Präventivschutz).
Ohne Frage ist es extrem schwer, hier einen Anfang zu setzen und sich heranzumachen, die jeweiligen Prozesse zu durchbrechen. Die gesellschaftliche Uhr kann nicht mit einer Reset-Taste auf null gestellt werden wie eine Stoppuhr, die mit einem Knopfdruck die aufgelaufene Zeit (gleichbedeutend mit den Identitätsproblematiken 2, 3 und 4; Stichwort: generationenübergreifende Weitergabe der Erfahrungen, Erkenntnisse, Strukturierungen und vor allem der Probleme) löscht und mit einem erneuten Knopfdruck wieder – unbelastet von der Vergangenheit - von Neuem zum Laufen anfängt und auf diese Weise einen echten Neubeginn starten kann.
Bildlich: Die gesellschaftlichen und sozialen Prozesse sind in einem ständigen Fluss, der freilich, und dies ist die übermenschlich anmutende und gleichsam alternativlose Herausforderung, gebremst und angehalten, dem sich dadurch aufbauenden Druck standgehalten und die Fließrichtung (und –geschwindigkeit) dann in eine andere, den menschlichen und ebenfalls den natürlichen bzw. umweltgemäßen Grundbedürfnissen und Notwendigkeiten angemessene Bahn gelenkt werden muss.
Die vorgenannten Kausalitäten mögen wie eine Rechtfertigung und ein Täterplädoyer anmuten, tatsächlich sind sie ein Appell an die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, sich trotz einer grausamen Tat – nach einer gewissen Zeit der Betroffenheit und Anteilnahme – eine Distanz zur sachlichen, der Problematik gebührenden Analyse und Beurteilung unter Berücksichtigung des relevanten Ursachenspektrums seitens des Täters zu bewahren (für eine persönlich involvierte Person als Angehöriger eines Opfers ist dies normalerweise nicht möglich und überdies nicht zumutbar). Die Aufgabe und sogar Pflicht einer aufgeklärten Gesellschaft ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, u. a. in Form der diesbezüglich unerlässlichen ideologischen Bewusstseinsausrichtung (vorrangig sozialer und wirtschaftlicher Natur), der Installierung angepasster, qualifizierter pädagogischer Institutionen und obendrein wirkungsvoller Kontrollinstanzen, die Lebenswege und –schicksale, welche unweigerlich schwerwiegende Verhaltensabnormitäten hervorbringen und infolgedessen die Existenz weiterer Menschen bedrohen oder vernichten, zu verhindern.
Nur kraft dieser aktiven Prävention können das Menschenrecht nach (körperlicher und psychischer) Unversehrtheit und zugleich die Sicherheit der Gesellschaft gewährleistet werden und nicht mit abstrusen wissenschaftlich, technokratisch motivierten Theorien, die in der Forschung nach einem wie auch immer gearteten Verbrecher-Gen gipfeln. Jene Suche ist die Bemühung mittels Rationalisierung einer gesellschaftlichen Verantwortung zu entgehen.
Gerade besonders grausames, brutales oder kriminelles Verhalten möchten der Mensch und die Gesellschaft gerne als unerklärliche Abnormität abtun, nur, um sich nicht mit den tief liegenden Ursachen auseinandersetzen zu müssen und zudem zu verhindern, Parallelen zur eigenen Existenz zu erkennen.
Diesen Transformationsprozess zu einer effektiven, die Wurzel für die Fehlentwicklungen mitberücksichtigenden Vorbeugung muss von einer sich nicht wie bisher vom krankmachenden gesellschaftlichen System vereinnahmen lassender Psychologie angeführt werden, die nur einzelne, sich bereits ereignete Fälle analysiert und dergestalt eine Singularität und Begrenztheit erzeugt (demnach erst nachträglich reagiert und dank der Begrenzung Schuld zurechenbar macht). Anstatt dessen obliegt es der Psychologie aufklärend zu wirken, indem die korrelierenden Gesamtzusammenhänge aufgezeigt und Änderungserfordernisse (Stichwort: neue gesellschaftliche Parameter, die den psychischen Grundbedürfnissen im ausreichenden Maße Rechnung tragen) konkret benannt werden.
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