„Was faselst du denn die ganze Zeit?“, herrschte Ludwig ihn an. „Halt endlich die Klappe!“ Er ging ganz langsam und hielt dabei die Waffe im Anschlag. Ben ging ganz dicht hinter ihm.
„Wenn es stimmt, dass das ein Schuss war, dann könnte der Schütze immer noch hier sein. Wir sollten in Deckung gehen. Oder wir drehen um und verschwinden so schnell wie möglich.“
„Jetzt hör endlich auf mit dem Gejammer!“ Ludwig war selbst überrascht, wie mutig er auf einmal war. Das lag sicher auch an der Waffe, an der er sich festklammerte. Aber noch mehr lag es daran, wie sich Ben verhielt. Wer war denn jetzt das Kleinkind?
Es ging nur langsam voran. Ben sprach weiter leise alle Gebete, die ihm einfielen und ging Ludwig damit mächtig auf die Nerven. Dann blieb Ben auf einmal stehen.
„Was ist?“
„Da liegt jemand“, flüsterte er.
„Du spinnst doch! Komm jetzt, wir gehen weiter!“
„Nein, da hinten liegt jemand!“, schrie Ben hysterisch. Seine Stimme war erschreckend laut in dem sonst so stillen Wald.
Genervt drehte Ludwig um.
„Wo denn?“
„Da!“
Jetzt sah auch Ludwig ganz deutlich einen Arm und ein Bein, die unter dem Laub hervorlugten. Kalkweiß hob sich beides vom dunklen Waldboden ab. Ludwig ging darauf zu.
„Was machst du denn?“
„Ich will mir ansehen, ob das echt ist. Es könnte ja auch eine Puppe sein.“
Ben folgte ihm.
„Wer würde denn eine solch große Puppe unter Laub verstecken?“
„Keine Ahnung. Menschen sind verrückt, dass weißt du doch.“
Ganz langsam näherten sie sich der fraglichen Stelle. Je näher sie kamen, desto höher stieg die Angst, aber die Neugier war größer. Ludwig nahm das Gewehr und stieß vorsichtig gegen den Arm, der eindeutig einer Frau gehörte. Zart und dünn lag er auf dem kalten Boden. Dann klopfte Ludwig gegen den Arm. Zur Sicherheit stieß er auch vorsichtig gegen das Bein.
„Das ist kein Plastik.“
„Der ist echt, das habe ich doch gesagt“, schrie Ben. „Das ist keine Puppe.“
Jetzt kniete sich Ludwig neben die Leiche und begann, das Laub und die Äste zur Seite zu schieben.
„Was machst du da? Lass uns verschwinden!“
Aber Ludwig hörte nicht auf seinen Freund. An dieser Stelle müsste der Kopf der Frau sein. Als er das Gesicht sah, erschrak er. Die geöffneten Augen starrten ihn an. Unwillkürlich wich Ludwig zurück.
„Das ist Frau Giesinger“, stammelte er. „Sie hat ein Loch in der Stirn.“
„Du kennst die Frau?“
„Meine Englischlehrerin.“ Mehr konnte Ludwig nicht sagen, denn er musste sich übergeben.
Als Ben sich der Leiche näherte, das Gesicht und auch das Loch auf der Stirn sah, wurde ihm ebenfalls schlecht.
„Hauen wir ab!“, sagte Ben und drehte sich zu seinem Freund um. Fassungslos sah er zu, wie der sein Handy nahm.
„Was machst du?“
„Ich rufe die Polizei, was sonst.“
„Spinnst du? Wir haben ein echtes Gewehr und jede Menge Munition dabei. Wie willst du das erklären?“
„Das ist im Moment doch völlig egal! Hier liegt eine Leiche und das müssen wir der Polizei melden. Soll ich meine Lehrerin einfach hier im Wald liegenlassen?“ Unbeirrt wählte Ludwig die Notrufnummer, wobei er heftig zitterte.
Ben wurde hysterisch. Er schrie und weinte wie ein kleines Kind.
„Und wenn wir die Frau erschossen haben?“
„Haben wir nicht!“
„Und wenn doch? Wenn es einen Querschläger gab? Ich will nicht ins Gefängnis! Ich bin vierzehn und damit strafmündig!“
„Reiß dich jetzt endlich zusammen! Wir haben die Frau nicht getötet. Das hat jemand gemacht, der die Leiche auch zugedeckt hat.“
Das leuchtete Ben ein und er wurde ruhiger. Er bekam am Rande mit, wie Ludwig telefonierte. Es dauerte nicht mehr lange, und die Polizei war hier. Das gab auf jeden Fall Ärger zuhause, das war klar. Ob es auch rechtliche Konsequenzen gab?
Die beiden wurden durch ein Fernglas beobachtet. Auch, dass einer der Jungs telefonierte, wurde wohlwollend zur Kenntnis genommen. Sehr gut! Was für ein Glücksfall, dass die beiden Jungs Schießübungen machten. Die beiden hatten nicht gekniffen und hatten die Leiche wie geplant entdeckt. Nicht mehr lange, und es würde hier von Polizisten wimmeln. Es war Zeit, so schnell wie möglich zu verschwinden.
Die Beamten der Mühldorfer Kriminalpolizei waren dreißig Minuten später am Tatort. Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, war als erster am Fundort eingetroffen. Es war seit dem letzten Fall nicht viel los gewesen und er hatte sofort reagiert, als ihn die Nachricht erreichte. Ohne mit den Kindern auch nur ein Wort zu wechseln hatte er sofort das Gewehr an sich genommen. Ja, die Kinder hatten geweint und wollten mit ihm sprechen, aber dafür war er nicht qualifiziert und das war auch nicht seine Aufgabe. Er war froh, als endlich die Kollegen eintrafen. Fuchs hatte die Fundstelle der Leiche weiträumig abgesperrt und jedem verboten, auch nur einen Fuß in die abgesperrte Zone zu setzen.
Diana Nußbaumer, die neue Kollegin der Mühldorfer Kripo, schien hier völlig fehl am Platz zu sein. Heute war sie ganz in apricot gekleidet, was sich vom grün-braun des Waldes abhob. Das Etuikleid passte perfekt zu den hochhackigen Schuhen, der Handtasche, dem Schmuck und dem Band im blonden Haar. Ja, sie gab sich viel Mühe und legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres, was aber Leo Schwartz gegen den Strich ging. Der Vierundfünfzigjährige mochte die Frau, aber mit diesem Spleen hatte er seine Probleme. Er verstand nicht, wie man Zeit und vor allem Geld in Outfits stecken konnte. Zufrieden bemerkte er die neidvollen Blicke der Kollegen, die offenbar sein neues T-Shirt mit dem Aufdruck von David Bowie bewunderten. Dazu trug er wie immer Jeans, seine Lederjacke und die Cowboystiefel, mit denen er nun durch den Dreck gehen musste. Vorsichtig achtete er auf jeden seiner Schritte, denn er hatte keine große Lust darauf, sie putzen zu müssen.
Der siebenundfünfzigjährige Hans Hiebler war leger gekleidet. Er sah immer so aus, als würde er sich gerade im Urlaub befinden, was auch an der Sonnenbrille lag, die er die meiste Zeit bei sich trug. Darüber hinaus umgab ihn auch heute wieder ein Duft, den vor allem Leo als sehr aufdringlich empfand. Da Hans bei dem herrlichen Wetter helle Slipper trug, war auch er von dem Ort des Einsatzes nicht begeistert.
Tatjana Struck war das völlig egal. Die Leiterin der Mordkommission stapfte mit ihren rustikalen Schuhen einfach drauf los. Die fünfundvierzigjährige gebürtige Frankfurterin war das genaue Gegenteil der neuen Kollegin. Sie kleidete sich zweckmäßig und ihr war es auch egal, dass heute ein dicker Kaffeefleck auf ihrem ungebügelten T-Shirt leuchtete.
„Ihr beide kümmert euch um die Jungs“, wandte sie sich an Leo und Diana. „Du kommst mit mir, Hans.“ Sie und Hans gingen direkt auf die Absperrung zu. „Was haben Sie für uns, Kollege Fuchs?“
Friedrich Fuchs verdrehte die Augen. Konnte man ihn nicht ein einziges Mal in Ruhe seine Arbeit machen lassen? Musste man ihn immer wieder stören, bevor er so weit war und einen umfassenden Bericht abgeben konnte? Aber mit Verständnis konnte er bei den Kollegen nicht rechnen, die waren immer in Eile. Warum? Die Leiche lief ihnen schließlich nicht davon.
„Und? Was ist nun?“, drängelte Tatjana, die den Kollegen Fuchs kannte. Wenn man nicht penetrant war, sagte der kein Wort.
„Es handelt sich um die Leiche einer Frau Mitte dreißig. Bei der Todesursache bin ich mir nicht sicher.“
„Sie hat eine Schusswunde auf der Stirn, das sehe ich doch von hier!“
„Ja, ihr wurde in den Kopf geschossen. Ob das aber todesursächlich war, kann ich nicht bestätigen.“
„Hä? Ich verstehe kein Wort. Lassen Sie sich doch nicht immer jedes Wort aus der Nase ziehen!“
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