Mit großer Wagenkolonne war es damals gleich weiter nach Taihuai gegangen, dem zentralen Ort des Hochtals zwischen den fünf Berggipfeln. Der Besuch dieses 'heiligen' Ortes mit seinen zahlreichen Klosteranlagen war dann reichlich Entschädigung für den ertragenen Spott gewesen. Wie es hieß, waren wir die ersten Ausländer überhaupt, denen man nach der Kulturrevolution dort oben Zutritt gewährte. Einige der Tempelanlagen in der Umgebung lagen noch verwüstet da. Bei anderen hatten erste Renovierungen begonnen. Mönche hatten wir in den anderthalb Tage kaum zu Gesicht bekommen. Besonders erinnere ich mich noch an einen uralten Einsiedler, der auf einem der etwas entlegeneren kahlen Gipfel hauste. Mit finsterem Gesichtsausdruck stand er reglos vor seiner aus groben Steinen errichteten Klause, als wir in der dünnen Luft schwer keuchend langsam zu ihm hochstiegen. Als wir näher herankamen, versuchte er, sich hinter dem halbverfallenen Stupa unsichtbar zu machen, der neben seiner Klause aufragte, was ihm aber in seinem dick wattierten und orange leuchtenden Mantel nicht so recht gelang. Nach einem energischen Wink aus dem Kreis unserer Begleiter musste er sich schließlich doch unseren Kameras stellen, steif und mit unbewegter Miene. Wir aber waren da schon völlig durchgefroren in dem schneidenden Wind, der – aus den mongolischen Grassteppen im Norden kommend – um diesen Gipfel fauchte. Gegen den boten auf Dauer selbst die schweren Militärmäntel, die man uns für diesen kleinen Ausflug zur Verfügung gestellt hatte, keinen Schutz.
In den Höfen oder Hallen der Klöster unten im Ort sahen wir gelegentlich einen jungen Mönch im orangefarbenen Gewand etwas unmotiviert in einer Ecke herumstehen. Oder es tauchte plötzlich einer aus dem Nichts auf und wanderte dann gemessenen Schrittes an uns vorbei, wenn er nicht von einem unserer Begleiter angehalten wurde, damit wir ihm Fragen stellen konnten. Wir hatten den Eindruck, dass die sich alle noch nicht so richtig in ihre künstlich wieder zum Leben erweckten Rollen hineingefunden hatten. Übernachtet hatten wir damals in einem der Gebäude des Großklosters Xian-tong Si, das die Zerstörungen der Kulturrevolution einigermaßen unbeschadet überstanden hatte, da es unter der direkten Obhut des Zehnten Pantschen Lama stand. Der Höhepunkt unseres Aufenthalts erwartete uns dort mitten in der Nacht. Lautes Hämmern von Fäusten gegen die schwere alte Holztür unseres Tempelquartiers hatte uns aus dem Schlaf gerissen. Als der Botschafter nach einigem Zögern den großen, eisernen Riegel zur Seite geschoben hatte, hatten mehrere Mitarbeiter der Auslandsabteilung der Provinzregierung unter Anleitung ihres Chefs eine längliche Holzkiste in die Vorhalle geschleppt, von der unsere Schlafräume abgingen. Im Licht mehrerer Taschenlampen – der Strom war abgestellt, wenn es in dem Gebäude überhaupt welchen gab – war die Kiste geöffnet worden. Die Männer hatten vorsichtig einen etwa anderthalb Meter langen Gegenstand herausgehoben. Vor unseren Augen hatten sie dann sorgsam ein großes Bild entrollt. Es zeigte eine etwa viereinhalb Meter hohe siebenstöckige Pagode. Erst als wir auf einen Wink unserer Gastgeber ganz nah herangegangen waren, hatten wir im Licht der Taschenlampen entdeckt, dass dieses Bild aus klitzekleinen Schriftzeichen zusammengesetzt war. Ein langer Sutrentext, geschrieben von einem berühmten Mönch aus dem achten Jahrhundert mit seinem eigenen Blut. Was mich damals am meisten beeindruckt hatte, war die tiefe Ehrfurcht, mit der diese Kader der Kommunistischen Partei das heilige Bild behandelt hatten, das man knapp zwanzig Jahre zuvor vor dem Wüten der Roten Garden gerade noch in Sicherheit gebracht hatte.
Diesmal brachte ein blitzsauberer Schnellzug uns beide innerhalb von dreieinhalb Stunden von Peking nach Taiyuan. Von dort ging es im modernen Reisebus in zweistündiger Fahrt weiter hinauf an diesen magischen Ort inmitten der Berge. Im Hotel mieteten wir einen Wagen mit Fahrer, der uns in den nächsten zwei Tagen durch die kahle Berglandschaft in rund dreitausend Meter Höhe von einem Tempel oder Kloster zum anderen fuhr. Man hatte mittlerweile tatsächlich all diese religiösen Bauten weitgehend originalgetreu renoviert oder wieder neu aufgebaut. Am beeindruckendsten aber: Im Gegensatz zu manchen anderen berühmten heiligen Stätten Chinas, die inzwischen eher einem Disneyland für Touristen ähnelten, war hier das religiöse Leben und Treiben mit aller Macht zurückgekehrt. Schon im Ort wimmelte es von Mönchen in den roten Gewändern der tibetischen Gelbmützensekte, der die meisten Klöster dort angehören. In allen Tempeln traf man neben den Mönchen auch zahlreiche Pilger, die – wie wir erfuhren – zum Teil selbst aus dem fernen Tibet anreisten. Wenn ich all diese ernsthaft Gläubigen sah, beobachtete, wie sich alte Frauen und Männer auf dem Weg von Tempel zu Tempel alle paar Meter auf den Boden warfen, sie vor den Buddha-Statuen knien sah, ins Gebet oder Sutrenrezitationen versunken, mit tief beseeltem Gesichtsausdruck, sah, wie sie unermüdlich die 108 Gebetsmühlen am Fuß des Stupa im Tayuan-Kloster in Bewegung hielten, und dann an das Manuskript dachte, das ganz unten im Koffer vergraben in unserem Hotelzimmer ruhte, überkamen mich auf einmal Zweifel. War es wirklich richtig, all diese Menschen aufzuklären, dass sie sich hier völlig vergeblich mühten? Dass Sinn und Glück überall zu finden waren, aber bestimmt nicht auf diesem Weg?
„Siehst du“, gähnte Martina, als ich ihr das erzählte. Da lagen wir nach unserem zweiten langen und anstrengenden Tag endlich im Bett in unserem Hotel und hatten schon das Licht ausgemacht.
„Aber man kann doch diese armen Menschen nicht auf Dauer so in die Irre führen“, suchte ich noch ihre Bestätigung. Aber da war sie wohl schon fest eingeschlafen.
In der Zentralen Parteihochschule
Gleich nach unserer Landung in Peking – Martina wartete noch am Gepäckband – rief ich Sophie in der Botschaft an.
„Ja, war echt super“, sagte ich, „wenn auch nicht ganz so abenteuerlich wie dein Trip nach Larung Gar. Aber hör mal: Hast du inzwischen was von Professor Wang gehört?“
„Wir haben alles genau so eingefüttert, wie besprochen. Er hat sich aber noch nicht wieder gemeldet,“ war die enttäuschende Antwort. Wir hatten da nur noch drei Tage bis zu der geplanten Weiterreise nach Shanghai. Ich hatte die Hoffnung praktisch schon aufgegeben, als Sophie an unserem letzten Tag in Peking doch noch anrief. Buchstäblich in letzter Minute.
Martina und ich waren zu Mittag nochmal richtig schön essen gegangen. In einem der Restaurants in dem schicken neuen Shopping-Komplex in Sanlitun. Auf der umfangreichen Speisekarte hatten wir immer noch weitere unserer alten Lieblingsgerichte von früher entdeckt. Oder irgendetwas, das so verlockend klang, dass wir das unbedingt auch noch probieren mussten. China eben.
„Das bringt mich nochmal um“, murmelte Martina und bestellte dann doch noch die 'Duftpilze vom Jadeberg' dazu. Wir hatten ja Zeit. Schließlich hatten wir uns für diesen letzten Nachmittag in Peking nichts Größeres mehr vorgenommen. Von unserem Eck am Fenster aus konnte man auf ein übriggebliebenes Stück des alten Sanlitun hinunterblicken. Ein überschaubares Quartier altersgrauer Ziegeldächer. Darunter geduckt zur Straße hin kleine Ladengeschäfte mit dem niedrigen Wohngeschoß der Betreiber darüber. Nach hinten führten schmale Durchgänge in das Gewirr der verschachtelten Dächer, und mittendrin konnte man ein Stück weit in die kleinen Innenhöfe hineinsehen. Aus zweien davon ragte ein Baum heraus. Hier und da konnte man auch einen der traditionellen Vogelkäfige von der Dachkante hängen sehen, oder dass da Wäsche an kreuz und quer gespannten Leinen hing. Alles wie früher. Nur manche der Läden zur Straße raus hatte es zu unserer Zeit noch nicht gegeben. Zum Beispiel den hell erleuchteten Smartphone-Laden im nachgeahmten Apple-Design, der sich wie aus einer anderen Welt in das Ambiente da unten verirrt zu haben schien. Oder den von bunten Glühbirnen erleuchtete Erotik-Shop, den man an den drei Schriftzeichen ‚Erwachsenenprodukte‘ neben dem Eingang erkennen konnte.
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