Und die Begier, ein allgemeiner Wolf, Zwiefältig stark durch Willkür und Gewalt, Muß dann die Welt als Beute an sich reißen Und sich zuletzt verschlingen.
Troilus und Cressida Erster Aufzug: 3. Szene
Die Rätsel von Badger's Drift
Sie ging kurz vor der Teestunde im Wald spazieren, als sie sie sah. Es war nicht ihre Absicht gewesen, leise umherzuschleichen, aber der weiche Waldboden mit dem verrotteten Laub und den Pflanzen dämpfte ihre Schritte, und die dichtstehenden, hohen Bäume schienen außerdem die Geräusche zu verschlucken. An manchen Stellen durchdrang die Sonne das Blätterdach, und grelle, weiße Strahlenbündel unterbrachen das gedämpfte Licht.
Miss Simpson wanderte durch diese Lichtstrahlen und richtete den Blick auf den Boden. Sie suchte nach der Korallenwurz. Sie und ihre Freundin Lucy Bellringer hatten diese Orchideenart vor fünfzig Jahren, als sie noch junge Frauen gewesen waren, zum erstenmal entdeckt. Sieben Jahre waren vergangen, bis sich die kleinen Blüten erneut gezeigt hatten, und damals hatte sie Lucy gefunden und war mit Triumphgeschrei ins Unterholz gekrochen.
Seit diesem Tag lagen sie miteinander im Wettstreit. Jeden Sommer streiften sie durch den Wald, manchmal getrennt, manchmal gemeinsam, und suchten eifrig nach den Blumen. Voller Hoffnungen und mit geschärftem Blick, bewaffnet mit Notizbuch und Stift, marschierten sie durch die düsteren Buchenwälder. Wer zuerst fündig wurde, mußte die Verliererin zum Trost zum Tee mit üppiger Verköstigung einladen. Die Orchidee blühte nur selten und, wegen des weitverzweigten Wurzelstocks, nicht immer zweimal am selben Ort. In den letzten fünf Jahren hatten die beiden Freundinnen ihre Suche immer früher begonnen. Jede wußte natürlich, daß die andere allein Streifzüge unternahm, obwohl keine ein Wort darüber verlor.
Also wirklich, dachte Miss Simpson, während sie mit ihrem Stock vorsichtig in einem Busch Glockenblumen herumstocherte, wenn das so weitergeht, dann gehen wir schon los, obwohl noch überall Schnee liegt.
Wenn es Gerechtigkeit in dieser Welt gab (und Miss Simpson glaubte fest daran), dann war sie 1987 dran. Lucy hatte 1969 und 1978 gewonnen, aber dieses Jahr ...
Sie schürzte die beinahe farblosen Lippen. Sie hatte ihren alten Strohhut auf, aber der Schleier, der das Gesicht vor Bienen und anderen Insekten schützen sollte, war zurückgeschlagen, und sie trug ein ausgebleichtes Baumwollkleid, faltige weiße Strümpfe und ziemlich ausgetretene, mit Grasflecken übersäte Tennisschuhe. In den Händen hielt sie ein Vergrößerungsglas und einen zugespitzten Stock, an dem ein rotes Band befestigt war. Sie hatte bereits fast ein Drittel des kleinen Wäldchens abgesucht und bahnte sich jetzt einen Weg tiefer ins Dickicht. Es konnten leicht zehn Jahre vergehen, bis sich wieder Blüten der Korallenwurz zeigten, aber der Winter war naß und kalt und der Frühling sehr feucht gewesen - beides gute Vorzeichen! Und der heutige Tag war irgendwie verheißungsvoll...
Miss Simpson blieb stehen und atmete tief durch. Am Abend zuvor hatte es leicht geregnet, und so war die warme Luft heute besonders schwül und schwer von dem Duft nach Blumen, Blättern und süßlichem Moder.
Sie näherte sich einer dicken Eiche, die mit rissigen Parasolen bewachsen war. Üppige Büschel Nieswurz wucherten um den Stamm.
Und da waren sie. Fast gänzlich versteckt unter einer verrotteten Laubschicht, die braun und weich wie Schokoladenstreusel den Boden bedeckte. Miss Simpson schob vorsichtig die modrigen Krümel zur Seite und schreckte dabei ein paar Insekten auf, die sich hastig in Sicherheit brachten. Die Blüten schimmerten in dem Dämmerlicht, als wären sie von innen beleuchtet. Es war eine seltsame Pflanze: sehr hübsch, die zart gesprenkelten, blaß gelb-braunen Blütenblätter öffneten sich wie Schmetterlingsflügel vom Kelch, aber es fehlte jede Spur von Grün. Sie hatte keine Blätter, und auch die Stiele waren dunkel und rot und braun marmoriert. Miss Simpson kauerte sich hin und bohrte ihren Stock in die Erde, um die Stelle zu markieren. Das rote Band regte sich nicht in der windstillen Luft. Sie beugte sich weiter vor, und ihr Kneifer rutschte dabei über die große, knochige Nase. Sie zählte die Blüten. Es waren sechs. Lucy hatte beim letztenmal nur vier gefunden. Ein doppelter Triumph!
Sie erhob sich aufgeregt und schlang die Arme um sich; am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt. Du wirst dich wundern, Lucy Bellringer, du bist zweifach besiegt! Aber Miss Simpson ließ sich nicht allzu lange von den Triumphgefühlen hinreißen. Das wichtigste war jetzt die Tee-Einladung. Sie hatte sich das letzte Mal, als Lucy in der Küche gewesen war, um noch einmal Teewasser aufzusetzen, Notizen gemacht, und auch wenn sie nicht protzig erscheinen wollte, hatte sie beschlossen, doppelt so viele verschiedene Sandwiches, vier Kuchensorten und zum Schluß ein selbstgemachtes Pflaumenschlehen-Eis anzubieten. Sie hatte eine ganze Schüssel voll schöner, reifer Pflaumenschlehen in der Speisekammer stehen. Die Vorfreude übermannte sie, und sie blieb eine Weile ganz still stehen. Sie sah ihren Queen-Anne-Tisch mit der hübsch bestickten Spitzendecke von Großtante Rebecca und all den Köstlichkeiten schon vor sich.
Bananenbrot mit Datteln, Teekuchen mit vielen Früchten, Mandeltörtchen, Pfefferkuchen und Nußplätzchen, Zitronenquark mit geschlagener Sahne, Ingwer-und Orangenkringel. Und vor dem Eis Toastschnitten mit Anchovis und Lei-cesterkäse...
Da war ein Geräusch. Man hat immer die Illusion, dachte sie, daß mitten im Wald absolute Stille herrscht. Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Nur gehörten die Geräusche so sehr zur Umgebung, daß sie die Ruhe eher unterstrichen, als sie zu stören - die Bewegungen kleiner Tiere, das Rascheln von Blättern und vor allem das Zwitschern und Klagen der Vögel. Aber das hier war etwas anderes. Miss Simpson rührte sich nicht vom Fleck und lauschte.
Es klang wie ein gequältes Keuchen, und für einen Moment glaubte Miss Simpson, daß ein großes Tier in eine Falle geraten sei, aber dann hörte sie plötzliche leise Schreie und ein eigenartiges Stöhnen, das eindeutig von einem menschlichen Wesen stammte.
Miss Simpson zögerte. Unter dem dichten Blätterdach war kaum auszumachen, aus welcher Richtung die Laute kamen. Sie schienen von dem Dickicht abzuprallen wie ein Ball. Sie trat über ein Farnbüschel und horchte wieder. Ja - es kam ganz sicher von dort. Sie schlich auf Zehenspitzen weiter, als wüßte sie schon im voraus, daß das, was sie entdecken würde, besser für immer ein Geheimnis bliebe.
Sie war dem Ursprung der Geräusche schon ziemlich nahe, nur noch ein dichter Busch befand sich zwischen ihr und dem Keuchen. Einen Moment blieb sie stocksteif vor der grünen Barriere stehen, teilte dann vorsichtig die Zweige, um durch die Lücke zu spähen. Um ein Haar wäre ihr ein Schrei des Entsetzens entfahren.
Miss Simpson war eine jungfräuliche Lady, und ihre Bildung in gewissen Dingen konnte nur als unzureichend bezeichnet werden. Als Kind war sie von einer Gouvernante unterrichtet worden, die mit hochrotem Kopf und stammelnd diesen Teil der >Naturwissenschaft< vage gestreift hatte. Sie hatte nur flüchtig von Vögeln und Bienen gesprochen, die Beschaffenheit der menschlichen Anatomie jedoch vollständig außer acht gelassen. Aber Miss Simpson war fest davon überzeugt, daß nur ein wirklich kultivierter Geist den Antrieb und den Trost für ein langes, glückliches Leben bieten konnte, und deshalb hatte sie in ihrer späten Jugend unerschrocken die großen Kunstwerke in Italien, Frankreich und Wien besichtigt. Daher wußte sie sofort, was hier direkt vor ihren Augen vor sich ging. Die verschlungenen nackten Arme und Beine (es schienen mehr als nur je vier Glieder zu sein) schimmerten feucht - genau wie die Körper von Cupido und Psyche. Der Mann umklammerte mit der Hand eine Haarsträhne der Frau und zog brutal ihren Kopf zurück, während er ihre Schultern und Brüste mit Küssen bedeckte. Miss Simpson konnte ihr Gesicht zuerst sehen. Es war ein Schock, aber als die Frau ihren Geliebten von sich stieß und sich lachend über ihn rollte ...
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