„Habe ich denn eine Chance, dass der Herr Büchner hier heute noch einmal vorbeikommt?“ Ich bemühte mich, demonstrativ freundlich zu sein.
„Ich glaube kaum, dass Sie ihn überhaupt nochmal hier antreffen werden“, gab der Asket zurück, wobei sich seine Züge jetzt immerhin doch noch zu so etwas wie einem kleinen Lächeln verzogen. Ich setzte mich mit einem Kopfnicken, das dem ähneln sollte, mit dem er selbst kurz zuvor den Alten entlassen hatte, in Bewegung. Dann reihte ich mich in den Strom der Messebesucher ein, die inzwischen in größerer Zahl in Richtung Hallenausgang strebten.
Ich ließ mich mit der Menge weiter Richtung U-Bahn treiben. Irgendwie schien sich alles gegen mich und mein Buchprojekt verschworen zu haben. Mein Agent tot, der Lektor, der von dem Buch schon so begeistert gewesen war, unerreichbar, und der einzige Vertreter des Verlages, den ich bisher kennengelernt hatte, seltsam abweisend. Meine letzte Chance, hier auf der Buchmesse weiterzukommen, war jetzt der große Messeempfang, für den Michael uns eine Einladung besorgt hatte – auch wenn ich immer noch nicht wusste, wie der Verleger, den ich dort ‚zufällig‘ treffen wollte, überhaupt aussah. Dieser Empfang war auch erst morgen Abend. Irgendwie musste ich die Zeit bis dahin überbrücken. Im Hotel würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen und schlafen würde ich kaum können, nachdem ich schon den halben Tag verpennt hatte und mir so viel im Kopf herumging. Ich beschloss, in die Stadt zu fahren und ins Kino zu gehen. In der Stadtzeitung FRIZZ, die im Hotel auslag, hatte ich den Hinweis auf die lange Kino-Nacht im Pupille gesehen. Einen dieser verfilmten Vatikan-Thriller nach dem anderen. Eine offenbar ironisch gemeinte Hommage an das Genre. Sicher nicht so interessant, wie die lange Lesenacht im Café Exzess, die ich verpasst hatte, aber in meiner Verfassung genau das Richtige. Ich habe dann aber nur bis zum ‚Inferno‘ (mit Tom Hanks) durchgehalten. Der Plot war noch schwachsinniger als beim ‚Da Vinci Code‘, dem Film davor. Kurz nach Mitternacht war ich wieder im Hotel, hängte noch das Bitte-nicht-stören-Schild raus und schlief dann tatsächlich durch bis gegen Mittag am nächsten Tag.
Kurz nach 18:00 Uhr betrat ich die große Halle der ‚Agora‘, wo im Halbkreis um das Podium herum die Stehtische für den Empfang aufgebaut waren. Wie ich erwartet hatte, war noch nicht allzu viel los. Aber ich wollte von Anfang an dort sein, weil ich nicht wusste, wann Joseph Altzinger, der Herr Verleger, hier aufkreuzen würde. Allzu viel Zeit würde ich nicht haben, um eine Gelegenheit zu finden, ihn anzusprechen. Und dafür musste ich ihn ja auch erst mal identifizieren. Wenigstens war ich in dieser Kunst dank langjähriger Erfahrung geübt. Nach Michaels Beschreibung musste der Chef des Wagenburg Verlags ein schon etwas älterer Herr sein. Auch schon von der Kleidung und vom ganzen Habitus her würde ich ihn von den zahlreichen Literaturagenten, Autoren und deren Verehrern, den hoffnungsvollen Möchtegern-Schriftstellern und allen sonstigen Randfiguren der Buch- und Literaturszene, die hier versammelt waren, leicht unterscheiden können. Er würde als Vertreter eines eher unbedeutenden Verlages auch kaum je im Mittelpunkt einer größeren Zahl von Personen stehen. Er würde einzeln, allenfalls noch von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter begleitet, langsam seine Kreise ziehen, hier und da einen Herren oder eine Dame eher seriösen Typs begrüßen oder auch einen Moment mit ihnen plaudern. Und ich würde mich den Herren, die diesem Steckbrief in etwa entsprachen, unauffällig nähern müssen, um aus den Wörtern oder Gesprächsfetzen, die ich aufschnappen konnte, schließen zu können, ob es tatsächlich der Gesuchte war. Vielleicht würde das Wort ‚Wagenburg‘ fallen. Oder sogar von einem ‚wirklich außergewöhnlichen religionskritischen Manuskript‘ die Rede sein, welches ein unbekannter Autor gerade eingereicht hatte...
Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, das ich erst jetzt einen ziemlich großen, fülligen älteren Herrn bemerkte, der sich in Begleitung einer schlanken Dame im Business-Kostüm auf der anderen Seite des Podiums gemächlich zwischen den mittlerweile schon recht zahlreichen Gästen hindurchschob. Seine von einem grauen Haarkranz umfasste, glänzendpolierte Glatze und das pausbäckige Gesicht mit dem Doppelkinn darunter waren auch aus größerer Entfernung gar nicht zu übersehen. Das musste er sein! Kaum hatte ich mich auf den Weg durch die Menge in seine Richtung gemacht, als mich ein lauter Zuruf stoppte.
„Ach, da sind Sie ja auch wieder!“
Den Tonfall kannte ich! Und diese etwas burschikose Begrüßung hatte tatsächlich mir gegolten. Der asketische Typ, der mich am Vortag am Wagenburg-Stand so knapp abgefertigt hatte, verbaute mir regelrecht den Weg. Immerhin lächelte er diesmal etwas freundlicher.
„Oh, der freundliche Herr von Wagenburg“, begrüßte ich ihn meinerseits.
„Ja“, antwortet er und zauberte jetzt sogar ein ausgesprochen gewinnendes Lächeln auf sein Gesicht. „Darf ich mich vorstellen: Gregor Neumann mein Name. Verlag Wagenburg, in der Tat. Es tut mir leid, dass ich gestern Abend etwas kurz zu Ihnen war. Aber Sie werden verstehen, dass man sich als Vertreter eines nicht allzu großen Verlages hier auf der Messe erst einmal voll aufs Geschäftliche konzentrieren muss.“
„Dafür habe ich natürlich vollkommen Verständnis“, antwortete ich höflich und versuchte, meine Überraschung und Ungeduld zu verbergen. Ich hatte also tatsächlich diesen Herrn Neumann vor mir, vor dem Michael mich ausdrücklich gewarnt hatte. Aber da musste ich jetzt durch.
„Gerion“, sagte ich und reichte ihm die Hand.
Diesmal griff er danach und schüttelte sie.
„Freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen.“
Mir kam der Verdacht, er könnte von Anfang an gewusst haben, wer ich war. Jedenfalls stellte er keine der Fragen, die andernfalls an dieser Stelle zu erwarten gewesen wären. Was ich auf dieser Messe denn täte, zum Beispiel. Oder gar, ob ich Buchautor wäre. Er schien nicht mal zu erwarten, dass ich ihn meinerseits nochmal was fragen oder ein Anliegen an ihn haben würde. Stattdessen machte er eine belanglose Bemerkung über den Rotwein, der hier ausgeschenkt würde. Nicht gerade berauschend sei der.
„Schade“, sagte ich. „Wo ich doch gerade jetzt einen kleinen Rausch gut gebrauchen könnte.“
Er lachte kurz auf, und wieder warf einen Seitenblick auf meinen Gipsarm. Aber auch diesmal war der ihm keine mitfühlende Bemerkung oder wenigstens eine Frage wert. Ganz so, als ob er es selbstverständlich fände, dass ich hier so lädiert herumlief. Stattdessen meinte er kryptisch:
„Es gibt Dinge, mit denen sollte man nicht spaßen. Das dürfen Sie nie vergessen.“
Das konnte sich durchaus auf das Berauschen beziehen. Oder vielleicht doch auf den Gipsarm? So oder so, diese Bemerkung hatte einen eindeutig warnenden Unterton. Das war mir in dem Moment aber egal, denn ich wollte auf keinen Fall die Gelegenheit verpassen, mich an den Mann heran zu machen, der möglicherweise Neumanns Chef war. Genau das aber schien dieser undurchsichtige Herr verhindern zu wollen. Oder schon verhindert zu haben. Ich konnte den großen Dicken mit der Glatze nämlich nirgendwo mehr entdecken. Neumann folgte meinem Blick in Richtung Bühne und wandte sich dann mit einem zufrieden wirkenden Gesichtsausdruck wieder mir zu. Wie jemand, der glaubt, ganze Arbeit geleistet zu haben. Die schmalen Augen hinter den dicken Brillengläsern musterten mich noch mal kurz, aber eindringlich.
Читать дальше