Überall auf dieser Erde hätte ich mit dir gerechnet, aber nicht in dieser elenden Kneipe. Hier war eigentlich der Ort, an dem ich mich vor dir und Deinesgleichen sicher fühlte.“
Klaus war betrunken und einige dieser eigenartigen Gestalten die sich um diese Uhrzeit hier aufhielten, begannen anzügliche Sprüche zu machen. Es stank nach kaltem Zigarettenrauch und Bier. Es gab wohl keinen Ort, an dem ich mich unwohler hätte fühlen können, als an diesem.
Als ich aufstehen und gehen wollte, hielt mich Klaus mit einem traurigen Lächeln zurück.
„Ich bin vor Tagen Frank begegnet. Er saß spät nachts auf einer Parkbank in der Nähe seiner Penthouse Wohnung, oder was immer das sein soll. Er sah fürchterlich heruntergekommen aus. Zuerst hielt ich ihn für einen dieser Penner, die sich dort gelegentlich herumtreiben.
Wir haben einige Jahre zusammen gewohnt und ich dachte immer, wir würden uns dennoch auf alle Ewigkeit fremd bleiben. Wir sprachen in dieser Nacht mehr, als in den Jahren in denen wir unter einem Dach lebten, aber kein einziges Wort über Susana. Frank ist der geborene Einzelgänger. Ich dachte immer, er würde uns alle nicht brauchen. Ich konnte mir nie vorstellen, dass er einmal wegen einem anderen Menschen leiden könnte. Doch in dieser Nacht spürte ich seine Traurigkeit. Und es war diese Traurigkeit um Susannas Tod, die uns beide erstmals in unserem Leben wirklich verband.
Ich habe ihn damals in meine Wohngemeinschaft geholt, da er mir leid tat, aber vielleicht auch nur, weil ich von seinem Wissen profitieren wollte. Schon bei unserer ersten Begegnung wusste ich, er würde uns einmal alle in den Schatten stellen. Eigentlich hätte er Susana hassen müssen. Wenn sie an Wochenenden bei mir übernachten wollte, durfte kein anderer in der Wohnung sein. Frank verbrachte diese Nächte dann irgendwo, vermutlich auf irgendwelchen Parkbänken, oder in Kneipen wie diesen, die die ganze Nacht geöffnet haben.
An den folgenden Montagen schlief er dann meist noch während der ersten Vorlesungen im Hörsaal ein. Dabei kam es nicht selten zu den eigenartigsten Auseinandersetzungen mit unsren Professoren:
„Wenn sie meine Vorlesung so langweilt, dass sie dabei einschlafen, wäre es wohl besser sie würden zuhause bleiben.“ Franks Antworten waren dann meist sehr einsilbig: „Das mag so aussehen, als würde ich schlafen, aber ich höre ihnen zu.“ Da keiner zurückstecken wollte, ging es dann elend lange so weiter: „Jeder hier im Hörsaal kann bestätigen, dass sie nach jedem Wochenende völlig übermüdet zur Vorlesung erscheinen und schon nach wenigen Minuten einschlafen “ „Denke nicht, dass ich irgendwen in diesem Hörsaal bei seinen Studien störe. Ich habe ein Recht hier zu sitzen bin aber nicht verpflichtet ihnen mit geöffneten Augen zuzuhören Und so ging es dann oft noch Ewigkeiten weiter.
An einem anderen Montag legte er sich mit einem der autoritärsten Professoren an unserer Hochschule an. Dieser drohte Frank damit, ihn mit Polizeigewalt aus dem Hörsaal entfernen zu lassen.
Bei dieser Vorlesung ging es um Komplexe Ableitungen in der Regelungstechnik. Der Hörsaal war nur zur Hälfte belegt und keiner der Anwesenden wäre hier gewesen, wenn er nicht den Nachweis für sein Studium gebraucht hätte.
Als er Frank einfach nicht schlafen lassen wollte und keine Ruhe gab, stand Frank auf und machte sich mit seinen aufrechten fast zwei Metern Körpergroße, auf den weiten Weg hinab zu diesem halb buckeligen hocherregten alten Mann, nahm ihm seine Kreide aus der Hand und wir sahnen den Beiden nun erstaunt zu, wie sie sich gegenseitig mit irgendwelchen Formeln abwechselnd widerlegten.
Irgendwann gingen wir Anderen dann geschlossen zu einem zweiten Frühstück in die Mensa und ließen die Beiden alleine weiterrechnen. Der Prof musste letztendlich zugeben, dass er schon seit Jahren mit einem Skript arbeitete, in der mehrere mathematische Ableitungen falsch waren. Da er diese Aufgaben auch in Klausuren abfragte, kam er dadurch in große Bedrängnis. Theoretisch hätte nun jeder, der bei diesen Prüfungen nicht die notwendigen Punkte erreichte, eine Wiederholung einklagen können. Dies sprach sich sehr schnell herum und wir haben diesen Prof. dann auch nie wieder ertragen müssen. Er war offensichtlich noch klug und mittlerweile alt genug um einzusehen, dass seine Zeit nun abgelaufen war. Spätestens nach diesem Vorfall ließ man Frank schlafen, wo und wann er wollte. Aber die meisten Professoren wussten auch, dass er das Geld für sein Studium oft in harter Nachtarbeit verdienen musste. Nach dem Praktikumssemester, in dem er mit
Anasev und Bernd, an deren Projekten arbeitete, ließen ihn die Beiden nicht wieder aus ihren Fängen.
Oft war nicht wirklich ersichtlich, ob er neben dem Studium arbeitet, oder neben der Arbeit studiert. Für Frank war dies alles selbstverständlich. Jedenfalls hörte man ihn nie über seine Situation klagen. Er hatte schon eine Zusage von dieser Hightech Vorzeigefirma in der Tasche, als wir Anderen noch davon träumten, unser Studium erfolgreich abzuschließen. Er verdiente ab dem vierten Semester schon mehr Geld, als die meisten Professoren und diese wussten dies auch sehr genau. Doch er hatte keine Zeit es auszugeben und am allerwenigsten für Mädchen, die ihn wohl nur beim Arbeiten gestört hätten.
Bis, bis er dann Susana begegnete. Woran ich nicht ganz unschuldig war. Was mir erst sehr viel später auffiel, Frank stellt niemals Fragen. Aber wenn du ihn ansprichst, etwas fragst, oder was auch immer von ihm möchtest, gibt er sich alle erdenkliche Mühe dir gerecht zu werden. Er behandelt dich stets so, als wärst du der wichtigste Mensch in seinem Leben.
Vielleicht haben Anasev und Bernd diese Eigenschaft für sich ausgenützt. Ich habe ihm zweifellos nie die Beachtung geschenkt, die er verdient gehabt hätte. Ich dachte, ich würde ihm einen Gefallen tun, wenn ich ihn an meinem Leben teilhaben lassen würde. Doch letztendlich habe auch ich ihn nur für meine Interessen benützt. Zuletzt war er es, der die Miete für unser Haus allein bezahlte, in dem ich mit meinen Freunden Partys feierte. Und zuallerletzt, als ich nicht mehr konnte, habe ich ihm auch noch Susana übergeben.
Wären wir uns in dieser Nacht, auf dieser elenden Parkbank zum ersten Mal begegnet, ich denke, wir wären vielleicht Freunde geworden. Aber es war neben ihm in dieser lauen Sommernacht gelegentlich so kalt, dass es mich gefroren hat. Susanna ist nicht an diesem verregneten Novembertag gestorben. Auf dieser Beerdigung hätte ich sie nicht mehr angetroffen. Da war sie dieser Welt längst entschwunden. Sie hat mein Leben zeitweise zur Hölle werden lassen. Irgendwie war ich erleichtert, als ich von ihrem Ableben hörte. Und dennoch war ich traurig und fühlte mich schuldig. Diese Schuld war es wohl auch die mich mit Frank in dieser Nacht verband. Wir liebten sie wohl beide. Jeder auf seine Art. Und zum Dank, hat sie unser Leben zerstört. Aber ich denke, das verstehst du nicht. Frank hätte die Kraft gehabt auch Susannas Leben mit zu leben. Ich habe ihn dafür beneidet. Wenn ich die beiden zusammen sah, tat es mir fürchterlich weh. Irgendwann fehlte mir einfach diese Kraft für zwei zu Leben. Und letztendlich konnte auch Frank nicht verhindern, was nicht zu verhindern war. Was uns bleibt und vermutlich für immer verbindet, sind unsere fürchterlichen Schuldgefühle. Sie hat es sich verdammt einfach gemacht.
Sie hat mit Frank niemals über ihre Krankheit gesprochen. Hätte sie es getan, sie würde heute noch leben, da bin ich mir ganz sicher. Susanna hat sich von mir verabschiedet, bevor sie sich aus dem Leben stürzte. Ich habe es, wie schon so viele Male zuvor, nicht mehr ernst genommen. Aber ich hätte es an diesem Tag auch nicht mehr verhindern können. Auf diesem Friedhof gab es für mich nichts mehr zu tun. Mein Gott, Frank hätte sie mit seinen starken Armen durchs Leben getragen, Was ist dies nur für eine schreckliche Krankheit, wo die Sehnsucht nach dem Tod stärker ist, als die Sehnsucht nach dem Leben?“
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