„Guten Morgen Mike! Frühstück ist vorbereitet. Ich habe Pampelmusen, Pfannkuchen, weiche Eier, Wurst, Käse, Konfitüre und einen guten starken Kaffee. Jetzt komm erst mal rein.“
Es war schön wieder bei den Großeltern zu sein. Es erinnerte ihn sosehr an seine Kindheit. Früher besuchte er sie auf dem Nachhauseweg von der Schule in regelmäßigen Abständen, aß dort zu Mittag und verbrachte Stunden in Georges Bibliothek. Dort standen unzählige wunderschön eingebundene alte Bücher, und in jedem war eine eigene neue Welt zu entdecken.
„Hi Mike,“ begrüßte George seinen Enkel, „ich habe einen Bärenhunger, die Pfannkuchen duften heute besonders gut, der Kaffee ist fertig, aber was stehen wir hier noch rum. Ab in die Küche!“
Mike umarmte seine Großeltern und zog seine Jacke aus. Durch den schmalen holzvertäfelten Flur hindurch ging es in die Küche. Dort war wie versprochen der Tisch fürstlich gedeckt, durch das Fenster zur Straße fiel ein Sonnenstrahl direkt auf seinen Platz. Es war als ob ihn die Sonne zum Frühstück einlud, als ob ein überdimensionierter Scheinwerfer auf ihn gerichtet war. Joanne zog den Fenstervorhang teilweise zu, die Sonne heizte den Raum trotz der frühen Uhrzeit mächtig auf.
Sie redeten beim Frühstück über alles Mögliche, sein Studium, seine Ex-Freundin Jane, Episoden aus seiner Jugend, aktuelle Politik, die demnächst anstehenden Präsidentschaftswahlen. Er verstand sich gut mit seinen Großeltern, sowohl mit den Eltern seines Vaters als auch mit denen seiner Mutter. Letztere lebten in einem kleinen Ort in Conneticut. Endlich, aus Mikes Sicht, sprachen sie über den eigentlichen Grund seines Besuchs, das Notizbuch von Jean Beauregard.
„Nach deinem Anruf habe ich mir das Notizbuch wieder angesehen und habe nach Beschreibungen von der Maschine gesucht. Vor allem im ersten Teil des Buches wird sie erwähnt. Jean beschreibt sie detailliert am Anfang, später bezieht er sich nur noch auf sie als ‚Tor zur anderen Welt.’ Er behauptet es ist der Weg über den er auf die Erde vor seiner Zeit in Frankreich gekommen ist. Was für eine andere Welt hinter dem Tor ist schreibt er nicht. Woher genau er kommt auch nicht.“
„Opa, was weißt du noch über Jean vor seiner Zeit in Amerika?“
„Nicht viel, er hat sich darüber immer ausgeschwiegen. So jedenfalls hat es mir mein Großvater berichtet der es wiederum von seinem Großvater hat. Und dessen Großvater war schließlich Jean. Jean war es wichtig, dass die Familie sein Notizbuch gut aufbewahren sollte. Es würde Informationen enthalten, die in der anderen Welt von größter Bedeutung wären. Na ja, so Recht konnte ich nichts Bedeutungsvolles finden, es ist im Großen und Ganzen nur sein Tagebuch. Ein paar Seiten davon sind interessant, der große Rest nicht. Lass uns doch in die Bibliothek gehen, dort befindet sich das Notizbuch.“
„Seid ihr fertig mit Frühstück?“ fragte Joanne. „Dann räume ich die Küche auf. Später habe ich einen frischen Hummer für uns, den hast du ihn New York sicher nicht jeden Tag zum Essen.“
Mike freute sich schon darauf. Denn seine selbst zubereiteten Mahlzeiten waren in der Regel keine kulinarischen Meisterwerke, im Gegenteil, sie brauchten den Vergleich mit Junk-Food nicht zu scheuen. Hauptsache schnell und billig.
George und Mike stiegen die steile Holztreppe rauf und begaben sich in die Bibliothek im ersten Stock des Hauses. George war ein Bücherfan. Seit seiner Jugend hat er Bücher nur so verschlungen, und ihm reichten nicht die billigen Taschenbücher, er wollte die gebundenen Werke. Diese zu sammeln war seine Leidenschaft. Er war auf der Ausschau nach Werken sooft er nur konnte in Antiquariaten, auf Flohmärkten, bei Wohnungsauflösungen, in Buchläden. Über Jahrzehnte hinweg hatte er sich dabei eine respektable Bibliothek aufgebaut, wovon die besten Exemplare im ersten Stock in der Bibliothek standen. Der große Rest war unter dem Dachboden verstaut. Seine Bibliothek hatte Charakter! Vom Boden bis zur Decke Regale voll gestopft mit Büchern. Sechzehn Quadratmeter Grundfläche, an der Wand zur Straße ein schmales hohes Fenster, davor zwei Ledersessel, dazwischen ein Couchtisch, eine Stehlampe mit großem Lampenschirm, schwere dunkelgrüne Vorhänge, Parkett und Holzdecke. Vor den Sesseln in der Mitte des Raumes lag ein dicker weicher Teppich. Hier zog sich George gerne zurück und verbrachte ganze Tage mit Bücherlesen. Joanne besuchte ihn von Zeit zu Zeit, an manchen Abenden nahm sie auf dem zweiten Sessel platz und blätterte in der Tageszeitung oder in einer Illustrierten. Selbstverständlich las auch sie Bücher aus Georges Fundus, nur hatte sie keine Lust jeden Tag jede freie Minute den Büchern zu widmen.
„Hier ist es“ sagte George und griff nach einem dunkelblau gebundenen Taschenbuch.
Mike nahm es entgegen und setzte sich in einen der beiden Sessel. Gierig öffnete er das Buch und blätterte schnell durch die Seiten. Er wollte die Beschreibung der Maschine finden.
„Sachte, sachte“ rief George lachend. „Zwei Jahrhunderte hat es überdauert, lass es wenigstens noch die nächsten Stunden überleben.“
Mike suchte im vorderen Drittel vom Buch, hier mussten die Beschreibungen stehen. Er schlug willkürlich eine Seite auf.
17. Januar 1792 – R. ist wieder hinter mir her, was will dieser Mensch bloß von mir? Ich dachte, ich hätte ihn bei den Tuillerien abgehängt. Mir gefällt seine Visage nicht. Der Mistkerl führt was im Schilde. Will mich wohl auf der Guillotine sehen. Einen fiesen Blick hat er drauf. Vorgestern hat er mich so penetrant angesehen, ich dachte, er wollte mich mit seinen Blicken durchbohren und töten.
Es folgten Passagen mit Notizen, wer diesmal geköpft wurde. Anscheinend waren einige gute Freunde dabei, die Einträge klangen zum Teil verzweifelt, vor allem aber desillusioniert. Anschließend fehlten ein paar Seiten, fein säuberlich mit einer Klinge aus dem Heft getrennt.
Mike blätterte weiter zurück. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er Jeans Französisch in seiner geschwungenen Schrift flüssig lesen konnte und keine Hilfe von George mehr brauchte. Er freute sich darüber, denn dadurch konnte er sich unbeschwert auf die Passagen die ihn interessierten konzentrieren ohne dabei sich beobachtet zu fühlen.
25. Mai 1787 – Wunderschöner Tag heute, Paris kann einen Mann überschwänglich glücklich machen. Mit Madame M. ausgegangen.
Auch davor fehlten mehrere Seiten. Mike fing jetzt von vorne an. Da stand geschrieben, dies ist das Notizbuch von Jean Beauregard, wohnhaft in Paris, Frankreich, begonnen am 22. September 1785. Die erste Seite begann schon eigentümlich:
22. September 1785 – Fremder, der Du liest diese Zeilen, beachte, ich bin nicht von dieser Welt! Mögen Dir die folgenden Eintragungen auch wirr erscheinen, forsche, dann wirst Du mit etwas Glück die Wahrheit finden. Trenne Dich nie von diesem Buch, Deine Rettung in dunkler Stund könnt sein. Hab Acht, existent ist die andere Welt, brutal und gemein.
Und da war sie, gleich auf der zweiten Seite, die Skizze von der Maschine samt ihrer Beschreibung! Mike wunderte sich. Wie oft hatte er Bücher von Beginn an gelesen, wie oft waren die entscheidenden Passagen im letzten Drittel zu finden. Auch in seinen Physikbüchern waren die interessanten Dinge immer hinten, vorne wurde nur das allgemein bekannte zum x-ten Male wiederholt. Deshalb hatte er Jeans Notizbuch zunächst in der Mitte aufgeschlagen. Aber hier auf diesen ersten Seiten war das Ziel seines Besuchs bei den Großeltern beschrieben: Die Maschine samt Skizze und weiterer Details! Seine Hände schwitzten, sein Herz schlug schneller! Kurz nur dachte Mike darüber nach, ob sein Großvater seine Aufregung merken würde, aber es war ihm letztlich egal. Einen kurzen Moment hielt er inne, dann betrachtete er die Skizze genauer.
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