Er saß in seinem Zimmer auf seiner Schlafcouch und hatte seinen Laptop auf dem Schoß. Er hatte sich vor kurzem diesen Computer gekauft, dazu noch Funknetzwerk und hatte zusammen mit seinem Mitbewohner sich bei einem Kabelnetzwerkdienst angemeldet, denn im Gegensatz zu anderen Graduiertenwohnheimen der NYU hatte dieses keinen Internetanschluss in den Zimmern. Jetzt waren sie durchgehend online und konnten nach Lust und Laune im Internet surfen. Sein Mitbewohner, Phil, vierundzwanzig Jahre alt und somit nur unwesentlich älter als Mike, war Kunststudent und ein absolut von sich überzeugter Maler. Er konnte die Begeisterung von Mike für seinen neuen Rechner nicht teilen, auch wenn er das Internet für einige Recherchen für ganz brauchbar hielt. Phil interpretierte den Werbespruch „Think Different“ auf seine Art und verzichte ganz auf Computer. Doch dafür lieh er sich Mikes Meinung nach ein wenig zu oft den Laptop aus. Außerdem hatte Phil mehr als seine Hälfte von der Wohnung als Atelier missbraucht und seine Bilder, Skizzen und Entwürfe überall wo Platz vorhanden war verteilt. Mike verteidigte sein Zimmer vehement gegen die Angriffe von außen – „da ist noch eine weiße Wand über deinem Bett, an der dieses geniale Gemälde eine Zierde und Inspiration für deine langweilige Physikerexistenz darstellen wird“. Aber abgesehen von solchen Drohungen verstanden sich Phil und Mike gut. Des Öfteren gingen sie auch gemeinsam abends aus, sie hatten beide die gleiche Vorliebe für kontemporäre Jazz-Musik und waren deswegen Freitag und Samstag abends häufig in den gängigen Clubs im Viertel zu finden. Dort spielten in regelmäßigen Abständen absolute Weltgrößen des Jazz für bezahlbaren Eintritt ihre Sets. Man saß in kleinsten Räumen in zwei bis drei Meter Entfernung von den Stars im Publikumsraum und genoss den Augenblick.
Mike suchte nicht bloß aus Neugier in den Newsgroups nach sonderbaren Maschinen und Gegenständen. Sein Großvater hatte ihm immer wieder erzählt, dass der Urahn der Familie, der aus Frankreich eingewanderte Jean Beauregard, außerirdische Eltern hatte, was allgemein zu größter Erheiterung anwesender Zuhörer führte. Der Großvater hatte zudem ein altes Notizbuch von ebendiesem Jean in dem einige seltsame Einträge über eine mysteriöse Apparatur und Anweisungen zum Umgang mit dieser aufgeschrieben waren. Auch eine Skizze dieses Gebildes hatte Jean angefertigt mit Details über die Inbetriebnahme. Sie sollte der Schlüssel zu einer anderen Welt sein. Die Schrift in dem Notizbuch war stark geschwungen geschrieben, für Mike schon fast zu stark, bei einigen für ihn unleserlichen Passagen benötigte er die Hilfe von seinem Großvater. Er hörte ihm gerne zu, wenn dieser daraus vorlas. Das letzte Mal als beide sich mit dem Notizbuch von Jean beschäftigten war unterdessen schon mehr als sieben Jahre her, weil das Thema seitdem nicht mehr angesprochen wurde. Der Grund dafür war, dass Mikes Eltern das ganze immer wieder als Humbug abqualifiziert und als plumpe Ausrede und Aufmacherei von Urahn Jean abgetan hatten. Denn überliefert ist auch, dass Jean ein großer Angeber und Hochstapler war und sich nicht zuletzt dank dieser Eigenschaften über den Atlantik gerettet hatte. Was genau er vor der Revolution in Frankreich trieb blieb unklar, Gerüchte kursierten er wäre im Geheimdienst des Königs tätig gewesen, andere stellten ihn als verkappten Helden der Revolution dar, der als Adjutant von Fabre D’Églantine, Freund und Wegbegleiter von Danton, frühzeitig die Spaltung zwischen Danton und Robespierre spürte. Jedenfalls flüchtete er im Sommer 1792 aus Frankreich, aufgrund welcher Motivation auch immer, über England nach Amerika. Er gab sich als Diplomat der Französischen Revolution aus, und sei von den neuen Führern in Frankreich als Emissär und Botschafter nach Amerika geschickt worden. Das von ihm vorgelegte Sendungsschreiben hatte er sich selbstverständlich selber geschrieben und sehr offiziell unterschrieben. Sogar einen Siegelstempel hatte er sich aus einem Stück Holz geschnitzt und so diesem Papier mehr Würde und Authentizität verliehen. Dass alles nur Show war hatte er viel später seinen Enkeln erzählt, denn was nützt die größte Inszenierung wenn kein Publikum es würdigen kann. Nur traute er sich nicht diese Geschichten unmittelbar nach seiner Ankunft in Boston zum Besten zu geben, er wollte lieber in der Stadt unauffällig ein neues Dasein beginnen.
Seine Liebe zu Frankreich und zum Französischen hielt Jean von Anfang an öffentlich aufrecht und bildete zusammen mit anderen Kompagnons aus der alten Heimat einen Club für frankophile Zeitgenossen. Sie trafen sich zum regelmäßigen Weintrinken und Philosophieren über die gute alte Zeit - vor der Revolution, selbstverständlich, mit dem guillotinierenden Pöbel von der Strasse wollte man sich nicht identifizieren. Da er gut schreiben konnte und sehr kreativ war fand er schnell eine Anstellung bei der Bostoner Zeitung „Massachusetts Mercury“, die im Laufe der Zeit öfters umbenannt wurde, zuletzt zur „New-England Palladium“, aus der er schließlich alters bedingt 1817 ausschied. Gerüchte schrieben Jean die laufenden Umbenennungen der „Mercury“ zu, seltsam war auch, dass er seine Artikel mit wechselnden Pseudonymen unterzeichnete. Zeitweilig verhielt er sich so als ob er sich verfolgt fühlte.
Kurz nach seiner Ankunft fand Jean eine Frau aus einer angesehenen und wohlhabenden Bostoner Familie, womit seine Zukunft nicht mehr ganz so düster und ungewiss wie zuvor war. Im Gegenteil, er konnte sich jetzt ganz seinen diversen Hobbys widmen und ohne übertriebene Geldsorgen als Redakteur arbeiten. Er fand obendrein auch Zeit sein Notizheft zu überarbeiten, zum Leidwesen von Mikes Großvater, denn es hat offensichtlich zum Herausschneiden ganzer Seiten geführt. Interessanterweise fehlen hauptsächlich Einträge aus seiner Zeit vor der Französischen Revolution. Über seine Herkunft und sein Alter war wenig bekannt, sein Sterbedatum 1833 steht heute noch auf dem Familiengrab, welches mit seiner Leiche begründet wurde. Aus seiner Ehe stammten drei Kinder deren Nachkommen die Erzählungen von Jean teils mit Vergnügen, teils mit Ungläubigkeit der Familie weitergaben. So gelangte Mikes Großvater schließlich zum Notizbuch und wurde zum Chronisten der Beauregard-Familie aus Boston, Massachusetts.
Mike erinnerte sich gut an die Skizzen in Jeans Notizbuch, er war als Kind ganz fasziniert von der Idee einer außerirdischen Herkunft seiner Ahnen. Er träumte davon als Erwachsener in Raumschiffen durch das Weltall zu sausen und unzählige Abenteuer und Herausforderungen zu erleben. Ganz unschuldig an seinem weiteren Werdegang waren diese Geschichten nicht, denn nicht zuletzt aus der Vorstellung von anderen Welten im Universum wandte er sich der Kosmologie zu. Jetzt, da er an der NYU im fortgeschrittenen Stadium seines Studiums war und mehr Zeit für Privates sich nehmen konnte, hatte er begonnen sporadisch nach unabhängigen Informationen über Jean und seine angebliche Maschine zu suchen.
Er stöberte deswegen im Internet vor allem auf französischen Seiten nach Hinweisen auf seltsame Geräte und Unerklärlichem. Vor kurzem erst hatte er die Newsgroup entdeckt, in der Nourredine seine Entdeckung geschildert hatte.
Es hatte den Anschein als ob sich in dieser speziellen Newsgroup alle möglichen Spinner und Phantasten tummelten, meist wurden handelsübliche Geräte als wundersame Dinger angepriesen. Beispielsweise wurde lange über ein mysteriöses Teil diskutiert, welches in regelmäßigen Abständen über kurze Metallsaiten verfügte, die an einer Achse beweglich montiert waren. Eine halbrunde Aussparung mit Schlitzen fing diese Saiten auf, nur richtig Musizieren konnte man damit nicht. Letztlich nach wilder Spekulation stellte sich das Wunderding als Eierschneider heraus, was zu heftigen Beschimpfungen der Diskussionsteilnehmer auf den ursprünglichen Autor des Eintrags führte, er möge doch sich aus dieser Gruppe fernhalten und die seriösen Einträge nicht mit seinem Müll verdecken. Und so ging es in einem fort, viel Blödsinn aber auch manch originelles. Insofern stach der Eintrag von Nourredine schon heraus da er scheinbar wirklich etwas Ungewöhnliches gefunden hatte. Mike störte es, dass das Gerät in Marokko gefunden wurde und nicht in Frankreich, insofern hatte es wohl nichts mit der Maschine von Jean Beauregard zu tun. Auch die Beschreibung der Apparatur passte nicht zu seiner Erinnerung der Skizze aus Jeans Notizbuch, und obendrein beschrieb Nourredine einen Raum mit zwei Objekten.
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