Natürlich hatte der Zug Verspätung! In welchem Land auf diesem Planeten namens Erde würde es Züge an einem Freitagabend geben die pünktlich an- und abfahren würden. Als ob die Planer der Verbindungen zum ersten Mal in ihrem Leben einen Freitagabend Fahrplan aufstellen würden! Vielleicht waren es auch kleine Sadisten, die über ihre Monitore gebeugt sich am Leid der am Bahnsteig wartenden Menschentraube belustigen konnten. Oder ihre Planung vom Freitagsverkehr basierte auf weltfremden Annahmen, da die Herren Planer von ihren Chauffeuren nach Hause per Auto gefahren wurden und vom Bahnfahren samt Begleitumständen keine Ahnung hatten. Mike ärgerte sich am Bahnhof über die prognostizierte halbe Stunde Verspätung des Zuges. Wie spät würde er erst in Boston eintreffen. Geplant war eine Ankunft am selben Abend um viertel vor zwölf. Nur stand er jetzt schon fast eine Stunde am Bahngleis und wartete wie viele andere auch auf die Zugeinfahrt. Ihm war kalt, es war schon nach acht und die Nächte im New Yorker Frühsommer konnten zeitig stark abkühlen.
Sein Abteil war voll, er hatte Mühe Platz für seine Tasche zu finden. Die Luft war schlecht und verbraucht, der Großraumwagen restlos ausgebucht. Ein paar Reisende standen im Gang und unterhielten sich laut mit anderen Passagieren. Er wollte ein Buch lesen, konnte sich bei dem Lärm aber nicht konzentrieren. Er freute sich schon auf die Zeit wenn er mal mehr Geld zur Verfügung hätte, damit er sich ein Flugticket leisten könnte und nicht mehr auf die Bahn angewiesen wäre.
Der Zug fuhr mit Verspätung in Boston ein, aber Mike hatte seine Eltern zuvor per Mobiltelefon über die Verzögerung informiert. Sie waren beide am Bahnhof um ihn abzuholen.
„Mike, wie schön, dich wiederzusehen!“ freute sich seine Mutter. „Es war schon eine kleine Überraschung, als du vorgestern anriefst.“
„Gib deine Tasche her“ forderte sein Vater, „und jetzt ab nach Hause. Es gibt eine gute Gemüsesuppe, die deine Mutter für dich gekocht hat. Und wenn ich ehrlich bin, ich habe auch noch ein kleines Loch im Magen und werde einen Teller mitessen.“
„Paul, wir haben doch schon gegessen!“ meinte seine Mutter. „Du sagtest du wärest satt.“
„Ja, Ruth, das war vorhin. Durch die Warterei auf den Zug habe ich wieder Appetit bekommen - ich freue mich schon auf deine gute Suppe. Mike, Opa behauptete, du wärest hauptsächlich wegen des Notizbuchs von Urahn Jean gekommen. Stimmt das?“
„Ja das stimmt. Ich hatte mich neulich daran erinnert, und da mir nicht mehr alle Details einfielen, dachte ich, ich schau bei Oma und Opa vorbei und lese bei der Gelegenheit ein paar Zeilen aus dem Buch.“
„Da steckt doch mehr dahinter. Bloß weil du ein paar Zeilen lesen wolltest fährst du doch nicht extra von New York nach Boston“ erwiderte der Vater.
„Das ist aber so!“
„Quatsch, ich kenn dich gut genug, Mike Beauregard, du bist auf irgendetwas aus. Und dazu brauchst du das Notizbuch von Jean. Hast du im Kino etwa einen neuen Science-Fiction Film gesehen? Gespickt mit Laserschwert tragenden Superhelden, im Morgenmantel gehüllt und coole Sonnenbrille vor den Augen? Um den doofen Blick dahinter zu verdecken, und superdummen Monstern? Wusch – Wasch – Beam – Zap“ sein Vater mimte den außerirdischen Schwertkämpfer.
„Nee, so ist das nicht. Außerdem waren die letzten Neuerscheinungen im Kino richtig gut! Banause! Aber darum geht es nicht, ich möchte über seine Zeit in Frankreich neue Informationen sammeln, und dazu wollte ich alles was wir durch sein Buch wissen zusammentragen damit ich die Informationen abgleichen kann.“ Mike war froh, dass ihm diese Ausrede eingefallen war. Es klang seiner Meinung nach sehr plausibel und war ja auch ein Teil der Wahrheit. Das mit der Maschine behielt er lieber für sich.
„Wieso interessierst du dich auf einmal für die Geschichte von Jean Beauregard vor seiner Zeit in den USA?“ warf seine Mutter ein.
„Ach, ich habe jetzt Internet im Wohnheim, und beim Surfen im Netz habe ich durch Zufall ein paar Seiten über die Einwanderer zur Zeit der Französischen Revolution gefunden. Auf einer war sogar Jean erwähnt. Das war spannend, man kommt von einem Thema zum nächsten, im nu ist der Tag rum. Es steht auch viel über die Zeit während und vor der Revolution drin. Ich dachte ich könnte mehr über Jean herausfinden. Auf jeden Fall ist es auch ein Test für mich wie umfangreich die Online-Informationen sind.“
Inzwischen waren sie bei ihrem Auto angelangt. Paul fuhr den Wagen von der Boston South-Station durch die Innenstadt durch auf die andere Seite des Charles River. „Ich beam dich gleich ins Nirvana, Erdenwurm. Scotty, Energie!“ – Paul war immer noch in Raumfahrerstimmung.
Die Familie hatte natürlich im Laufe der Jahrhunderte mehrmals ihren Wohnsitz innerhalb Bostons gewechselt. Mikes Eltern hatten sich in einem der nördlichen Bezirke ein mittelgroßes Einfamilienhaus mit Garten gekauft als die Kinder noch klein waren. Denn obwohl ihr Haus in einem der renommiertesten Bostoner Stadtteile, „The Hill“, lag, war es Ruths und Pauls Meinung nach keine Umgebung mehr für Kinder. Sie sollten in einer grünen Umgebung mit Garten aufwachsen können. Dafür zogen dann Joanne und George, Pauls Eltern, in das nun leer stehende Haus ein.
Mike freute sich wirklich über den Teller Suppe den er bekam. Der traditionelle Pot-au-Feu seiner Mutter war immer noch seine Lieblingssuppe. Da konnten auch die New Yorker Chinesen aus China-Town mit ihren guten Gemüse- und Nudelsuppen nicht mithalten. Paul aß mit der gleichen Leidenschaft wie Mike seinen Teller leer. Wie üblich sahen sich beide von Zeit zu Zeit aus ihren Augenwinkeln an und führten ihren unausgesprochenen Wettstreit aus wer zuerst fertig war. Selbstverständlich gab es Nachschlag. Obwohl es schon spät war saßen sie dann nach dem Essen im Wohnzimmer alle drei über ein Glas Importwein, einem echten Elsässer Riesling aus einem kleinen Dorf bei Barr in Frankreich und diskutierten. Sie bedauerten, dass Mikes Schwester nicht mit anwesend sein konnte, sie hatte leider keine Zeit dieses Wochenende auch zu den Eltern zu fahren. Um drei Uhr früh gingen sie dann schlafen.
Am Samstagabend traf Mike sich mit ein paar alten Schulfreunden in einem der Pubs am Hafen. Es gab viel zu erzählen, denn sie sahen sich nicht mehr sehr oft.
Endlich Sonntag! Viel hatte Mike nicht geschlafen, es wurde wie bei seinen Treffen mit den Freunden üblich sehr spät. Doch er war schon um halb acht wach und sprang aus dem Bett.
„Nanu, du schon wach?“ konstatierte seine Mutter. „Ich dachte du warst gestern Nacht in der Stadt?“
„Stimmt schon, aber ich kann nicht mehr schlafen. Ich bin total fit!“
Er sprang unter die Dusche, zog sich an und ging runter in die Küche. Sein Zimmer lag im ersten Stock gleich unter dem Dach. Ruth hatte Café-au-Lait zubereitet. Im Grunde genommen war da nicht viel vorzubereiten, die größte Schwierigkeit lag im Besorgen der Baguettes. Es gab aber zusehends mehr Geschäfte die außer amerikanischen Toast auch anderes Brot führten. Es roch sehr gut. Paul war natürlich auch schon wach. Mike hatte das nie verstanden, wie es seine Eltern immer schafften vor ihm fertig zu sein. Er trank aber nur einen Kaffee, denn er wollte gleich zu seinen Großeltern zum Frühstück gehen. Er war bestens gelaunt.
„Hi Opa, Mike hier. Ich mach mich auf den Weg.“
„Prima,“ erwiderte George am Telefon, „hast du schon gefrühstückt?“
„Nur einen kleinen Kaffee getrunken. Der war zum Aufwachen gedacht.“
„Gut, Joanne hat Pfannkuchen vorbereitet. Bis gleich.“
Am Sonntagmorgen war nicht viel los in der Beacon Street. Die Frühstückscafes öffneten allmählich. Passanten waren noch nicht zahlreich auf der Strasse. Mike näherte sich dem Haus der Großeltern. Aus einem nahe gelegenen Lokal roch es nach Speck, Eiern und frischem Kaffee. Er klingelte, Joanne machte die Tür auf.
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