Silke fiel auf, wie unterschiedlich die Rechtsverteidiger waren: Die Rechtsanwältin von der Gegenseite haute gegen Silke ohne Rücksicht in die Vollen. Sie schilderte sie als die Böse, die den Schlüssel ins Tor gesteckt hatte, so dass die Beamten vermuten mussten, dass sie eingeschlossen werden sollten. Silkes eigener Anwalt aber hielt sich sehr bedeckt, hörte verstummend zu und vergaß scheinbar die Verteidigung von Silke, wegen der er vor Ort war. Silke saß zusammengesunken auf ihrem Platz, wie ein begossener Pudel, und musste sich noch von der Richterin am Sprechen hindern und fertigmachen lassen. Deren Aussage und Beurteilung ließ das Recht und Gesetz vermissen.
Silke begriff nicht, wie diese Richterin, ohne auch sie zum Sachverhalt angehört zu haben, die an ihr grundlos durchgeführte, nicht angekündigte und daher rechtswidrige Gewalt des Polizisten, zu ihrem Nachteil, nachträglich gutheißen konnte. Gerichte stehen nicht über dem Gesetz. Aus diesem Grund empfand Silke die schnöde Behandlung, die ihr widerfahren war, als Rechtsbeugung. Sie wusste, dass man mit diesem Begriff sehr vorsichtig umgehen musste, da man sich, wenn man ihn jemandem vorwarf, selbst strafbar machen konnte, was geahndet wird. Sie beschloss das, was die Obrigkeit ihr angetan hatte, als „Unrechtsbegradigung“ zu bezeichnen. Denn sie hatte es nun am eigenen Leib erfahren, wie dem Unrecht von Rechtswegen her ein gerader Weg geebnet wurde.
Wenn die Begriffe nicht klargestellt sind, dann treffen die Worte
nicht das Richtige.
Wenn die Worte nicht das Richtige treffen, dann kann man in
seinen Aufgaben keinen Erfolg haben, dann können Ordnung
und Harmonie nicht blühen.
Wenn Ordnung und Harmonie nicht blühen können, dann sind
die Strafen nicht gerecht.
Wenn die Strafen nicht gerecht sind, dann weiß das Volk nicht
mehr aus noch ein.
Konfuzius
Abends führte Silke ihr Tagebuch weiter. Sie googelte im Internet und notierte: Justizkritik ist erlaubt. Gerichte stehen nicht über dem Gesetz. Vorsicht ist geboten, wenn die Kritik nicht mehr als freie Meinungsäußerung, Wahrnehmung berechtigter Interessen oder Ausdruck anderer Freiheitsrechte anzusehen ist, denn dann kann sie strafbar sein. Dies gilt traditionell vor allem für den Vorwurf der Rechtsbeugung
(vgl. RGSt 31, 281).
Mit anderen Worten: „Halt die Schnauze, du musst dir alles gefallen lassen“, dachte Silke und las weiter: Unter Rechtsbeugung versteht man im deutschen Recht die vorsätzlich falsche Anwendung des Rechts durch Richter, Amtsträger oder Schiedsrichter bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei.
Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Es ist ein Grundsatz des Rechtsstaates, der besagt, dass kein Gericht eine Entscheidung fällen darf, ohne dem dadurch Betroffenen vorher Gelegenheit gegeben zu haben, sich dazu zu äußern (Art. 103 Abs. 1 GG).
Silke durfte nichts sagen und wurde auch nicht gehört, weil die Richterin diesem Gesetzespassus, dass jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat, nicht entsprochen hatte. Silke stellte im Nachhinein noch einmal fest, dass der Staatsanwalt ausschließlich auf der Seite des Polizisten gekämpft hatte. Es wäre ebenso seine Pflicht gewesen, entlastende Merkmale für ihre schlichte Handlung, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, zu suchen, was er nicht getan hatte. Seine Haltung, von vornherein gegen Silke eingestellt zu sein, führte die Richterin fort. Silke wurde wegen ihrer Handlung, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, als Nötigerin des Polizisten abgestempelt,
„so dass er sie verletzen durfte“.
Silkes im Grunde genommen nichts sagende Handlungsweise wurde zum Motiv, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrund für Pappulskis Körperverletzung gestaltet. Dass diese Körperverletzung nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeiten entsprach und zudem rechtswidrig war, interessierte niemanden vor Gericht.
Normalerweise war es doch so, dass wenn einer einen Unfall hat, wenn er beispielsweise mit dem Fahrrad in eine Falle fährt, oder er hat jemanden angefahren oder jemand ist einem ins Fahrrad gelaufen, dann ist es von größter Wichtigkeit genaueste Angaben zu machen, damit die Schuldfrage und Finanzierung der Schadenswieder- gutmachung geklärt werden. Es war für Silke schwer verständlich, dass die Gerichte in Fällen von rechtswidriger Polizeigewalt nicht genauso pedantisch, sämtlichen Hinweisen beider Seiten nachgehen wollten, wie es wichtiger Weise notwendig wäre, um Recht zu sprechen. Die Realität aber zeigte, nicht nur in Silkes Fall, dass zumindest die Beweise und Zeugen der Geschädigten von Polizeigewalt bei Gericht keinerlei Interesse auslösten. Silke ging davon aus, dass der überwiegende Teil der Polizei ordnungsgemäß seinen Dienst versah. Dann musste es aber doch die Pflicht der Justiz sein, Polizeibeamte, die gegen Recht und Gesetz verstießen, auszumustern, denn die Demokratie lebt davon, dass Menschen sich an Recht und Gesetz halten. Entscheidungsträger der Polizei müssten sich dazu verpflichtet fühlen, schwarze Schafe nachzuschulen, zum Schutz der Bürger und einer geordneten rechtsstaatlichen Situation. In Silkes Augen durfte es die Möglichkeit nicht geben, unschuldige Bürger mit Billigung der deutschen Behörden vor Gericht rechtloszu machen. Wenn Rechtsbrüche auch noch über den Rechtsweg abgesegnet werden, dann hieße dies sogar „Gutheißen von rechtlicher Willkür“.
Silke wusste, dass es allgemein bekannt war, dass man hierzulande die Rechtsopfer viel zu leicht vergaß, doch dass man sie darüber hinaus auch noch zu Tätern machte, war für sie neu, und sie konnte es nicht nachvollziehen. Was Silke erlebte, war die plötzliche Umkehrung aller Werte, die für sie wichtig waren und für die sie bisher eingestanden hatte. Es war sehr schlimm für sie, dass sie für das, was sie immer verteidigte – die Gerechtigkeit – nun bestraft wurde.
Auch die andere Partei
werde gehört.
Seneca
Der Grund, warum
Menschen zum Schweigen gebracht werden,
ist nicht, weil sie lügen,
sondern weil sie die Wahrheit reden.
Wenn Menschen lügen, können
ihre eigenen Worte gegen sie angewandt werden.
Doch wenn sie die Wahrheit sagen,
gibt es kein anderes Gegenmittel, als
die Gewalt.
Theodor Fontane
Glaubwürdigkeit im Schutze der Macht
Nach dem Erlebnis im Gerichtssaal des Landgerichtes fühlte Silke sich wieder einmal traumatisiert. Sie verstand nicht, dass sie zu einer Verhandlung einbestellt wurde, in der man nicht gewillt war, sie anzuhören. Das Wort Verhandlung bedeutet der deutschen Sprache nach auch Aussprache, Dialog, Gedankenaustausch. Doch die erlebte Gerichtsverhandlung und die einseitige Prozessführung durch die Richterin sprachen eine andere Sprache. Man hatte Silke fühlbar gezeigt, dass die Glaubwürdigkeit eines Polizeibeamten mehr wog, als ihre Wahrheit, die sie von Anfang an in der Dienstaufsichtsbeschwerde und ihrem Anwalt gegenüber gleichbleibend ungeschönt geschildert hatte. Sicherlich hatte die Richterin Kenntnis von der Aktenlage, dachte Silke. Die tatsächlichen Tatbestandsmerkmale gegen den Polizeibeamten Pappulski war sie jedoch bewusst übergangen. Es interessierte sie nicht, dass er Silke ohne Grund und Vorwarnung verletzt hatte. Denn Silke hatte ihn nun mal nicht eingeschlossen. Einen Schlüssel ins Schloss zu stecken, ist doch kein Verbrechen, zog es Silke zum hundertsten Mal durch den Kopf.
Gefahr im Verzug und Notwehr, die den Angriff des Polizisten gesetzlich erlaubt hätten, lagen in Silkes Garten nicht vor. Doch davon wollte die Richterin nichts wissen. Sie beharrte darauf, Silke als freiheitsberaubende Täterin zu brandmarken.
Читать дальше