"Komisch? Was meinst du damit?", gab Herr Augustinus die Frage zurück.
"Na ja, verkaufen Sie das alles?"
Der Alte sah ihn mit einer Miene an, als hätte er diese Frage in einer ihm völlig unbekannten Sprache gestellt. " Verkaufen? Wie kommst du denn darauf?"
Valentin gab auf. Ladenbesitzer, die nichts verkaufen wollen, waren für ihn schließlich nichts Neues. "Nur so...", verwarf er seine dumme Frage.
"Na gut", meinte Augustinus schroff. "Dann geh jetzt."
"Ähm, der Ausgang ist aber verschlossen. Können Sie ihn aufsperren?"
"Du wirst doch in der Lage sein, eine gewöhnliche Tür zu öffnen", lautete die unerwartete Antwort.
So drückte Valentin die Klinke abermals herunter. Und er konnte es nicht fassen. Die Tür, welche ihm kurz zuvor die Flucht verweigert und anschließend dem verzweifelten Engels den Zutritt verwehrt hatte, ließ sich nun ohne die geringste Anstrengung öffnen.
"Auf Wiedersehen", sagte der Alte, hob den Krähenspäher von seiner Schulter und warf ihn in die Luft. Das geheimnisvolle Tier begann augenblicklich zu flattern, worauf sich auch die übrige Krähenschar in die Lüfte erhob. "Und denk daran: Keine Dummheiten mehr."
"Ja", antwortete Valentin. "Auf Wiederseh..."
Aber da war die Tür hinter seinem Rücken bereits zurück ins Schloss gefallen. Er drehte sich um und drückte die Klinke abermals herunter. Unfassbar, jetzt war sie wieder fest verschlossen. Der Regen legte nun deutlich zu, und aus irgendeinem Grund war sich Valentin sicher, dass auch dies kein Zufall sein konnte. Er sollte diese seltsame Gasse jetzt verlassen und den Krähen folgen. Nach ein paar Schritten jedoch stockte er. Da lag sein Mathematikheft auf dem Kopfsteinpflaster. Engels hatte es vorhin beim Wühlen weggeworfen. Nun war es völlig durchnässt."So ein Mist", stöhnte er und schüttelte es aus.
Aber da lagen noch weitere Utensilien im Regen: Ein zersprungenes Mobiltelefon, dem das Wasser noch weit weniger gut bekommen war und eine Nickelbrille mit zersplittertem Glas. Dazu eine abgetragene Aktentasche sowie ein völlig durchnässter Schuh, in welchem sogar noch eine Socke steckte. Dieser Anblick tröstete Valentin über den Verlust seines Schulhefts hinweg.
Wo gehobelt wird, fallen eben Späne , dachte er sich. Und diese Lektion war offenbar sehr gründlich gelernt worden. Er steckte das Heft ein. Dann beschloss er, auch die Nickelbrille und das zerstörte Handy mitzunehmen, als eine Art Trophäe. Die Aktentasche und den Schuh ließ er jedoch zurück. Was sollte er auch mit all den verstreuten Stücken von Engels anfangen?
Der Krähenspäher krächzte und zog ungeduldige Kreise unter dem Wolkenturm. So machte sich Valentin auf den Weg. Er blickte auf das verbeulte Eisenschild, welches an einer alten Straßenlaterne befestigt war und im Wind zitterte. "Eulengasse", flüsterte er. Da vernahm er plötzlich ein leises Hecheln, ja ein fast winselndes Hecheln. Und ein Geräusch, welches sich anhörte, als liefe jemand barfüßig und triefend vor Nässe über das nackte Kopfsteinpflaster.
Wiwiff...bwww! Wiwiff...bwww!
Patsch! Patsch! Patsch!
Blitzschnell drehte er sich um. Aber es war zu spät. Nichts regte sich in dieser Gasse, nichts außer dem fallenden Regen. Dafür hatten sich Engels´ verlorener Schuh und die Aktentasche auf höchst geheimnisvolle Art und Weise in Luft aufgelöst. Da machte ihn eine ungeduldige Krähe darauf aufmerksam, dass es nun wirklich Zeit war, zu gehen.
Kapitel 21 - Narbenbetrachtung
Es dauerte bis spät in die Nacht hinein, ehe Valentin auch nur annähernd begriff, was sich in den letzten Stunden alles zugetragen hatte. Immer und immer wieder starrte er dabei in den donnergrollenden Hexenhimmel und stellte sich vor, dass er es gewesen war, der den entarteten Fleck einst heraufbeschworen hatte. Er und kein anderer.
Ein alter Stadtplan brachte ihn schnell an die Grenzen seines Verstandes, denn eine Eulengasse existierte nämlich nicht. Nicht in dieser Stadt und wohl auch nicht in dieser Welt. Die Eulengasse war nichts als Phantasie, das Hirngespinst eines Verrückten. Als er aber seinen Geisteszustand ernsthaft in Frage stellte, zog er auch schon die Relikte des Wahnsinns aus seiner Tasche. Ein zerstörtes Mobiltelefon und eine zersprungene Nickelbrille.
Wie er es auch drehte und wendete, es bestand kein Zweifel mehr: Er hatte einen ganzen Nachmittag an einem Ort verbracht, der nicht existierte. Und ob er nun verrückt war oder nicht - es fühlte sich großartig an.
Die Euphorie sollte jedoch schnell verfliegen, als er am nächsten Morgen wieder in die Fänge des grauen Schulalltags geriet. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich der dumme Junge an diesem Tag unantastbar. Sollten sie doch quatschen, was sie wollten. Es gefiel ihm einfach, dass er jetzt jemanden kannte, der sie alle fertigmachen konnte.
"Denkst du gerade an den Tod?", fragte ihn das Mädchen namens Grabstein, als er geistesabwesend in den Schulhof starrte.
"Nein", sagte er. "Es hat nur wieder einmal Krach gegeben, aber das juckt mich nicht."
"Wieso? Was ist denn passiert?"
"Mein Schulheft wurde gestern ruiniert. Ich habe mir in der Nacht extra noch die ganze Arbeit gemacht, es abzuschreiben und es dann auf dem Schreibtisch vergessen. Und warum habe ich es vergessen? Weil ich wegen der ganzen Arbeit natürlich verschlafen musste. Der Glatzkopf ist jedenfalls total ausgerastet. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht."
"Kann ich verstehen", sagte Luiza. "Es gibt wohl eine ganze Reihe von Leuten, die heimlich Mordgelüste gegen ihn hegen."
"Du auch?"
"Nein", sagte sie. "Ich habe ja meine Bücher."
"Bücher?"
"Ja", meinte sie allen Ernstes. "Wer Bücher hat, dem können solche Gestalten nichts anhaben."
In diesem Moment ließen sich die Krähen im Geäst einer mächtigen Birke nieder - jenem Baum, der von Frühling bis Sommer dafür sorgte, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Schüler unter einem fürchterlichen Schnupfen litt. Valentin blieb wundersamerweise davon verschont. Die Birke war nämlich eine der wenigen Pflanzen, auf welche er nicht allergisch reagierte.
"Ist schon seltsam, oder?", bemerkte Luiza.
"Was?"
Sie stellte ihm keine Frage, sondern zeigte nur mit dem Finger in die Richtung seiner gefiederten Begleiter.
"Oh nein, nicht schon wieder", versuchte er sich um eine Erklärung zu drücken. "Das ist eine längere Geschichte. Und die erzähle ich nicht, weil sie mir ja sowieso kein normaler Mensch glauben würde."
"Sehe ich etwa aus wie ein normaler Mensch?"
Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als dem schwarzhaarigen Mädchen die unglaubwürdigste und verrückteste Räuberpistole aufzubinden, die je auf einem Schulhof erzählt wurde. Als er mit seinen Ausführungen fertig war, wunderte er sich, dass Luiza noch immer neben ihm saß.
"Was soll daran so kompliziert sein?", fragte sie ihn völlig unbeeindruckt.
"Wie bitte?", fuhr er sie völlig entgeistert an. "Heißt das, du glaubst mir? Das hört sich doch alles an wie totaler Schwachsinn."
"Kann natürlich sein", meinte sie. "Aber die Krähen sind ja nunmal hier. Und die Vorstellung mit dem Pickelgesicht und seinem Diener beim Rendezvous mit der Gewitterwolke hätte ich gerne gesehen."
"Das war wie im Kino", strahlte er. "Augustinus brauchte nicht einmal mit dem Finger zu schnippen. Das war die schlimmste Abreibung, die sie je erlebt haben. Hier..." Er zog die Nickelbrille aus seiner Jackentasche. "Die lag vor der Ladentür. Engels hat es richtig zerlegt."
"Wie schade", amüsierte sich Luiza. "Jetzt kann er ja gar keine Anordnungen mehr befolgen, so ganz ohne Durchblick."
"Stimmt", sagte Valentin. "Und das ist noch nicht alles." Er kramte erneut in seiner Jacke und zog Pappkes zerrupftes Handy heraus.
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