"Sie sind also völlig machtlos gegen die Hexe?"
"Richtig. Völlig machtlos", erklärte er. " Die Unberechenbarkeit der Materie . Man könnte es natürlich auch die Unbesiegbarkeit der Materie nennen. Egal, was du auch tust - sie gewinnt immer. Denn alles ist zwar vergänglich, aber nichts vergeht. Und mit dem Hexenstaub ist das ähnlich. Er bleibt für immer und ewig. Das ganze Universum besteht schließlich aus Staub."
"Soll das etwa heißen, dass ich das Ding nie wieder loswerde?", fuhr Valentin entsetzt in die Höhe.
"Das nicht", beruhigte ihn der Alte. "Wir müssen die verbrannte Hexe nur an einen Ort bringen, an dem sie keinen Schaden mehr anrichten kann. Aber bis dahin müssen wir noch eine Weile warten. Man riskiert nämlich Kopf und Kragen, wenn man sie in diesem Zustand zu transportieren versucht. Sie hat Blut geleckt und sicher längst gemerkt, dass ein Teil von ihr wieder eingeschlossen ist. Und wahrscheinlich schmiedet sie bereits einen Plan, wie sie wieder herauskommen kann. Wir warten erst einmal ab, bis sie sich beruhigt hat, dann sehen wir weiter."
"Dann darf ich wieder nach Hause gehen? Sie bringen mich nicht um?"
"Wieso sollte ich dich umbringen?", überlegte Herr Augustinus und kratzte sich dabei nachdenklich am Kinn. "Aber da wir schon beim Thema sind: Ich habe in dem alten Bootshaus einen verrosteten Spaten und einen zerrupften Reisigbesen benützt. Denen ist der Staub auch nicht ganz so gut bekommen. Falls dir die beiden irgendwo begegnen, rate ich dir, den Kopf einzuziehen."
"Waaas?"
"Immer schön einziehen", wiederholte er. "Denk daran. Ein Besen und ein Spaten, kaum zu übersehen. Aha, wir bekommen Besuch..."
Er blickte durch das kleine Fenster vor dem Tisch und öffnete es. Draußen kamen die Krähen gerade herbeigeflogen und vollführten einige wilde Kunststücke am Himmel. "Die haben richtigen Spaß heute", freute sich Augustinus.
"Ich glaube eher, dass die hinter mir her sind", stöhnte Valentin. "Sind das Ihre Krähen?"
Noch bevor der Alte antworten konnte, flatterte eine von ihnen herab, sauste durchs Fenster und setzte sich auf seine Schulter. Es war der Krähenspäher.
"Das sind Rabenkrähen, die gehören niemandem. Aber sie hausen hier. Und wenn du nach dem Grund fragst, warum sie dir auf Schritt und Tritt gefolgt sind..."
Er machte eine unmissverständliche Geste in die Richtung des Turmzimmers.
"Habe es fast vermutet. Heißt das, dass die mich jetzt in Ruhe lassen?"
"Woher soll ich das wissen? Es sind Rabenkrähen. Die treffen ihre Entscheidungen grundsätzlich selbst. Denen kannst du nichts vormachen. Die meisten Menschen mögen keine Raben. Viele sind sogar so dumm, Angst vor ihnen zu haben. Aber das ist ganz gut, denn so werden sie wenigstens in Ruhe gelassen. Die Menschheit ist einfach zu doof für derartige Wesen. Du kannst froh sein, dass sie mich alarmiert haben. Ohne die Krähen hätte ich nie im Leben gemerkt, dass etwas im Busch ist."
"Woher wussten Sie dann, dass ich in diese Gasse laufen würde?", wollte Valentin wissen.
Herr Augustinus blickte sehr geheimnisvoll in den Gewitterhimmel. "Du hast doch selbst gesagt, dass du gejagt wurdest. Wie ich schon sagte, das Unglück sucht sich seinen Raben, nicht umgekehrt. Und der Rest..." Er schob mit der Hand einen kleinen Kupferkessel zur Seite.
"...ist nichts als Marmelade."
Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass er sich gerade in diesem Augenblick umdrehte und das riesige Buch wieder zurück ins Regal beförderte. Doch eine Frage konnte Valentin sich dennoch nicht verkneifen. Er wollte wissen, warum sich ein so gefährliches Wesen wie die Staubhexe von einer einfachen Kiste aus Holz und Eisen im Zaum halten ließ.
"So niederträchtig das Hexenjägergesindel auch war. In diesem Fall haben sie zumindest gewusst, was sie taten", meinte Herr Augustinus. "Es ist das Holz der Kiste, das ihr die Grenzen aufzeigt. Birkenholz oder auch Hexenwurzelholz. Das vertragen sie nicht. Sein Geruch schläfert sie ein. Die Eisenbeschläge und das Schloss sind nur dazu da, um die Kiste zusammenzuhalten und den Inhalt vor ahnungslosen Langfingern wie dir zu schützen."
Valentin senkte abermals den Kopf. "Und warum haben Sie die Kiste in Ketten gelegt?"
"Nun, du hast sie ja ordentlich ramponiert. Ihr Schloss ist hinüber, Birkenholz hin oder her. Aber das neue Schloss ist auch nicht schlecht."
"Und warum verriegeln Sie dann noch die Tür?"
"Reine Vorsichtsmaßnahme. Staubhexen sind tückisch. Wenn du glaubst, sie würden etwas nicht können, könnte das schon der erste Fehler sein - und...wenn´s richtig schiefläuft, auch der letzte."
"Und was mache ich nun mit dem Bootshaus?"
"Gar nichts", sagte der Alte, jetzt in einem sehr bestimmenden Tonfall. "Du wirst dich der Hütte nicht mehr nähern. Sie hat Hexenstaub abbekommen. Könnte sein, dass sie so etwas wie ein Bewusstsein entwickelt hat. Heimtückische Sache..."
"Und was ist mit anderen Menschen, die sich dem See nähern?", gab Valentin zu bedenken.
"Nun, wenn sie Pech haben...", überlegte Herr Augustinus laut, schüttelte dann aber sogleich den Kopf. "Warum sollte ein Mensch eine verlassene Hütte im Wald aufsuchen?"
"Vielleicht, weil es komisch ist, dass sie Gewitter anlockt?"
"Hmm...nein", antwortete er. "Ich glaube kaum, dass gewöhnliche Menschen diese Art von Gewitter sehen können. Nein, die sehen nichts. Die haben eigentlich noch nie irgendetwas gemerkt. Vergiss sie einfach. Mach´s wie die Krähen. Die lachen sich kaputt darüber."
"Dann bin ich kein normaler Mensch?"
"Offensichtlich nicht. Aber mehr ist ja nicht passiert."
"Gibt es mehrere, nicht normale Menschen?"
"Das hoffe ich doch. Die alte Dame zum Beispiel, der die Kiste einmal gehört hat. Sie hätte das Gewitter ganz sicher gesehen. Und da sie die Kiste bis zu ihrem Ende völlig unbemerkt unter Kontrolle halten konnte, müssen wir davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich sogar die Mittel besaß, das Unwetter zu bändigen."
"Und warum ist sie dann tot?"
Wieder zuckte der Alte mit den Schultern. "Warum nicht? Lass sie doch. Vielleicht verging ihr die Zeit einfach nicht schnell genug." Das war die mit Abstand banalste Betrachtungsweise über den Tod, die Valentin je gehört hatte.
"Aber eines merke dir", warnte ihn Augustinus. " Du wirst die Waldlichtung nicht mehr betreten, ganz egal, was geschieht. Es könnte nämlich durchaus passieren, dass dich der verbliebene Staub zu locken versucht. Grundsätzlich gilt: Traue nie einem Hexenweib, welches sich seines Körpers bereits entledigt hat. Niemals, verstanden?"
"Jaaah", antwortete Valentin und erschrak dabei, da seine Stimme in eine Tonlage verfiel, welche er sonst nur von der Nickelbrille kannte.
"Gut", sagte Herr Augustinus. "Dann wäre ja alles geregelt. Du kannst jetzt gehen. Aber denk daran: Das Bootshaus und der See sind tabu. Man wird ein Auge auf dich haben."
Er blickte zum Fenster hinaus, wo sich die Krähenschar gerade in die Lüfte erhob. Einen Augenblick später landeten die geheimnisvollen Tiere auch schon vor dem Schaufenster und der Ladentür - als hätten sie das Gespräch von eben verfolgt.
"Alles klar", sagte Valentin.
"Ach so, ehe ich es vergesse", bemerkte Augustinus und deutete auf das zerborstene Element des Schaufensters. "Sag dem verkommenen Mondgesicht und seinem Diener, dass das nächste Unwetter alle beide durch sämtliche Rohre der Kanalisation spülen wird, wenn sie sich noch einmal hier in der Gegend herumtreiben sollten. Und diese Warnung sollten die beiden mehr als ernst nehmen. Meine Augen..."
Er zeigte auf das Fenster mit den Krähen und begann zu grinsen.
"...sind nämlich überall."
Nun begann auch Valentin zu grinsen. So gingen sie zur Tür. Als sie an den vielen Regalen und Schränken vorbeikamen, konnte er sich aber eine Frage nicht verkneifen:"Was ist das eigentlich für ein komisches Geschäft?"
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