Schicksal, Schicksal gehorche mir...
Der Wind jagte den beiden Dummköpfen das Laub nun aus allen Richtungen um die Ohren. Doch das schien nicht viel zu nützen, da sie noch immer bar jeglicher geistiger Regung durch die Zeit trieben. Das piepsende Leuchtkästchen war offenbar mächtiger als erwartet.
"Verflucht!", schimpfte der Mann und schlug mit der Faust auf den Holztisch.
Plötzlich geriet Betriebsamkeit in das Gesicht des ersten Spießgesellen. Er wandte seinen Blick von dem Leuchtkästchen ab und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
"Hey, ich hab was!", rief der rothaarige Junge und rammte seinem Kumpan den Ellbogen in die Seite.
"Auaaa!", beschwerte sich dieser.
"Ich hab was! Los, komm mit."
"Wohin denn?", wollte sein Diener wissen und rückte seine Brille zurecht.
"Frag nicht. Komm mit."
"Jaaah, ich komme schon", seufzte die Nickelbrille, klemmte sich die schlichte Aktentasche unter den linken Arm und trottete dem Pickelgesicht hinterher.
Kapitel 19 - Eine unheilvolle Begegnung
Die außergewöhnlichen Minuten mit dem schwarzhaarigen Mädchen hatten Valentins Laune zumindest für diesen Tag verbessert. Sogar der Unterricht war unerwartet glimpflich abgelaufen, abgesehen von einigen gehässigen Blicken und dem dazugehörigen Geflüster. Doch was kümmerte es ihn? Sollten sie doch flüstern, was sie wollten...diese Deppen.
Allerdings sollte der Tag noch eine unangenehme Überraschung bereithalten: Das Schicksal wollte es nämlich, dass er vergeblich auf den Bus wartete. Das verdammte Ding kam einfach nicht, warum auch immer. Zuerst dachte er sich nicht viel dabei. Er träumte aus irgendeinem Grund von einem eiskalten, mit reichlich Sahne garnierten Brombeereis und vertrieb sich die Zeit damit, die Laubblätter beim Tanz im Wind zu beobachten. Doch aus zehn Minuten wurden irgendwann zwanzig, und als er nach einer halben Stunde noch immer an der Haltestelle stand, hatte er die Hoffnung längst aufgegeben. Nur Krähen - aber kein Bus.
Es war nicht das erste Mal, dass dies geschah und auch keine große Katastrophe. Denn immerhin gab es ja noch eine weitere Buslinie, die allerdings nur bis zur Stadtgrenze reichte. Und jener Bus fuhr auch nur von einer Haltestelle in der Innenstadt ab. Aber es half nichts. Zumindest spielte ja das Wetter mit. So gab es wieder Arbeit für den geplagten Krähenspäher, denn sein Zielobjekt machte sich auf Richtung Innenstadt. Ob dort Brombeeren wuchsen? Wer weiß, wer weiß...
"Woher hast du das denn gewusst?", flüsterte Engels und fokussierte mit seiner Nickelbrille den Jungen, der da achtlos auf dem Fußweg entlangtrödelte.
"Keine Ahnung", zischte Pappke und formte dabei eine Kaugummiblase. "War nur so ´ne Eingebung. Ich hatte plötzlich Appetit auf Brombeermarmelade."
" Brombeermarmelaaade ?", fragte Engels entgeistert. "Wie kommst du denn jetzt daaarauf?"
"Ist doch scheißegal", motzte das Pickelgesicht. "Hauptsache, dass Kraus jetzt da ist. Los, den machen wir fertig."
"Fertigmachen?", fragte Engels. "Und waaarum?"
" Warum? Warum? Ist doch auch scheißegal, Mann!", fuhr ihn sein Kommandant unwirsch an. "Weil er Kraus ist. Ist doch völlig egal, warum man einen plattmacht. Hauptsache ist, dass man ihn plattmacht. Und den mach ich jetzt platt. Los, da geht´s lang." Daraufhin formte er noch eine Kaugummiblase und ließ seine fettigen Fingergelenke knacken.
Ihr Opfer hatte inzwischen den kleinen Park erreicht, der die moderne Stadt von der Altstadt trennte. Ein eigentlich idyllischer Platz, der allerdings weit entfernt davon war, als Ruheoase durchzugehen. Baustellen trübten zu allen Seiten das Bild, und hinter den goldrot gefärbten Alleebäumen ragten die Kräne gleich reihenweise in den Himmel.
Die moderne Stadt - das waren die Riesen aus Glas, Stahl und Beton: Versicherungspaläste, Banken, Finanzoptimierer, Rechtsanwaltskanzleien und das Sozialamt. Sie sorgten dafür, dass man den Bürgern mit Rat und Tat zur Seite stand. Immer und immer weiter fraßen sich die glänzenden Monster in die Altstadt hinein.
Valentins ungewohnter Weg entfachte im Krähenvolk natürlich jede Menge Unruhe. Sie hatten ihm zunächst ihren Späher auf den Hals gehetzt. Doch als ihnen dieser signalisierte, dass ihr Zielobjekt nicht umkehren würde, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich selbst an seine Fersen zu heften. Unentwegt zogen sie nun ihre Kreise am Himmel, setzten sich auf die Äste der Bäume und erweiterten ihr Koordinatensystem.
Valentin beobachtete sie und fragte sich, was in ihren Köpfen wohl vor sich gehen mochte. Sie schienen nach einem festen Verhaltensmuster vorzugehen. So flogen sie immer ein Stück voraus, warteten in den Bäumen - und wenn Valentin dann die jeweilige Stelle erreicht hatte, setzten sie auch schon zum nächsten Flug an. Änderte er seine Richtung, ging sofort ein Raunen durchs Geäst. Eine ganze Weile verfolgte er das seltsame Treiben, bis ihm plötzlich jemand von hinten in die Beine trat.
"Und kaum geht man aus dem Haus, trifft man schon den Stolperkraus. Tja, so sieht man sich wieder. Auf den Boden mit dir, du Null!"
Es war Pappke. Valentin war gestolpert und unsanft auf dem Asphalt gelandet.
"He, was soll das?", rief er empört.
" Was das soll, fragt der Dorftrottel! Ja, was wohl? Du kriegst jetzt ein paar aufs Maul. Ich hau dich platt. Das soll das."
"H-hmm", machte Engels, der sich mit verschränkten Armen hinter dem Rücken des Pickelgesichts versteckte und zustimmend nickte.
Pappke zückte sein Handy, um ein Foto von seinem Opfer zu machen. Dabei formte er eine Kaugummiblase, die aber unerwartete Dimensionen annahm und ihn für einen Augenblick irritierte. Diesen Moment nützte Valentin. Blitzschnell sprang er vom Boden auf und rannte los.
"Los, hinterher!", brüllte Pappke.
"Ja-aaah...", piepste sein wieseliger Diener artig.
Valentin rannte, so schnell er konnte und schlug dabei Haken wie ein Kaninchen. Am Ende des Parks konnte er Pappkes Atem schon in seinem Nacken spüren.
"Bleib stehen, du verdammter Loser!", rief sein Verfolger. "Ich krieg dich sowieso! Und dann mach ich dich platt!"
Seine Flucht verschlug ihn in eine ihm völlig unbekannte Gegend. Er war in die Altstadt geraten - dunkle Gebäudefassaden, enge Gassen und Kopfsteinpflaster. Ein hässlicher Ort, der aber einen entscheidenden Vorteil hatte: Die Straßen waren verwinkelt. Und glücklicherweise war Pappke kein guter Läufer. Ein paar Gassen weiter hatte ihn Valentin abgehängt. Von Engels fehlte auch jede Spur. Völlig außer Atem, suchte er Deckung hinter einem Treppenabgang.
Was für hirnverbrannter Idiot , dachte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Und da sich eine ganze Weile nichts rührte, wagte er einen vorsichtigen Blick aus seinem Versteck. Aber mehr als eine bucklige Frau war nicht zu sehen. Seine Verfolger hatten das Spiel verloren, diese Trottel.
Doch damit war Valentin noch längst nicht aus dem Schneider. Er hatte unterwegs nämlich völlig die Orientierung verloren und nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand. Eines stand jedenfalls fest: Wenn er wieder zurück zum Park gelangen wollte, konnte er ganz gewiss nicht mehr jene Richtung einschlagen, aus welcher er gekommen war. Er war sich sicher, dass das Pickelgesicht dort lauern würde.
Da kannst du warten, bis du schwarz wirst , schwor er sich, während seine Füße von einer vom Wind getriebenen Schar Laubblätter umzingelt wurden. Dann verließ er sein Versteck und beschloss, über eine etwas schräg einmündende Straße zum Park zurückzugelangen. Das würde zwar einen riesigen Umweg bedeuten, aber was sollte es schon? Den Linienbus konnte er ohnehin bereits vergessen.
Er war kaum zehn Schritte weit gegangen, als plötzlich ein seltsames Rauschen und Plätschern in seine Ohren drang. Wasser. Er lief über die Straße und blickte in eine Seitengasse. Es war kaum zu glauben: Es regnete dort - nicht nur ein wenig, es regnete in Strömen.
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