Hrrrrrrr! , machte der Kater, sprang auf und verschwand im Nebel.
"Bleib hier, du doofes Vieh!"
Doch Kuntz hörte nicht auf ihn. Da meldete sich plötzlich der Krähenspäher und stieß einen gellenden Schrei aus. Die kleine Plage war davongeflogen, einfach so. Doch irgendwie ahnte Valentin schon, warum sie das tat. Keine Minute später hörte er auch schon die Flügel der übrigen Schar über seinen Kopf hinwegflattern. Der Späher hatte also Verstärkung geholt. Fragte sich nur, wozu? Kuntz blieb verschwunden. Selbst am Waldrand war nichts von Joes verkommener Ausrottung zu sehen. Dafür konnte man hier wieder vernünftig laufen. Er verschärfte das Tempo und blendete alle Gedanken an irgendwelche Gefahren aus. Es war ja schließlich nur Kuntz, eine selten dämliche Katze.
Über einen schmalen Weg gelangte Valentin hinunter an den See, an dessen Ufer sich die dichte Böschung mit der alten Bootshütte befand. Hier war der Nebel nicht mehr ganz so dicht wie auf dem Acker, dafür ging ein richtiger Landregen hernieder. Man konnte bereits die einzelnen Sträucher erkennen - und die Krähen, welche soeben auf ihnen gelandet waren. Von der alten Hütte war wegen des Buschwerks noch nichts zu sehen, dafür aber die ersten Spuren der Vernichtung.
Ein toter Marder lag in unnatürlich verkrümmter Haltung auf einem Grasbüschel, als wäre er im hohen Bogen durch die Luft geschleudert worden. Zwei kleine Vögel hatten das tobende Gewitter der vergangenen Tage ebenfalls nicht überlebt. Einer von ihnen war blutüberströmt, der andere lag mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Rücken.
Ein paar Schritte weiter stieß Valentin plötzlich auf etwas, für das es nun wirklich keine Erklärung gab. Da lag eine uralte Laterne im Dreck. Sie war völlig deformiert, das Glas zerbrochen. Er hob sie auf und betrachtete sie. In einer riesigen Wasserlache, welche sich vor dem Eingang des Bootshauses gebildet hatte, schwammen ein paar verkohlte Zweige. Er machte einen Satz über die Pfütze und klopfte sich den Schmutz von den Schuhen. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Was war denn hier geschehen?
Valentins Kinnlade schien Bodenkontakt zu suchen, so sehr zerrte die Schwerkraft an den Grundfesten seines Verstandes. Die Krähen flatterten wild umher, wohl ebenfalls aufgescheucht von dem, was in den letzten Nächten mit der alten Holzhütte geschehen war. Überall an den Wänden des wackligen Bretterverschlags wucherte schwarzes Gestrüpp empor, mit Ästen, unzähligen Ästen, die alle mit unzähligen, kreuz und quer abstehenden Dornen gespickt waren.
Das fremdartige Gewächs hatte die Hütte umspannt wie ein gigantisches Spinnennetz, das Schindeldach in seiner Mitte gespalten und die Scheibe des kleinen Fensters durchschlagen. Die Tür war zur Hälfte aus den Angeln gehoben worden und unnatürlich nach außen gewölbt.
Kuntz saß auf der Türschwelle und spuckte einen verendeten Vogel aus.
"Was tust du hier, verdammt?", keuchte Valentin, während er einen riesigen Schuhabdruck unweit der Schwelle entdeckte. Von wem er stammte, konnte er sich nicht erklären. Eines stand jedoch fest: Irgendjemand hatte dem Bootshaus einen Besuch abgestattet. Und von diesem Jemand stammte offenbar auch die zerschlagene Laterne. Hatte ihn der Landstreicher also doch verfolgt?
Valentin wagte es nicht, dem seltsamen Gewächs zu nahe zu kommen. Er schnappte sich einen langen Ast und versuchte damit, Kuntz von der Schwelle zu scheuchen. Doch das war keine gute Idee, denn plötzlich bewegte sich die Tür.
"UAAAAH!", schrie er entsetzt. Das von vielen heißen Sommern ausgebrannte Holz knackte und ächzte und begann, sich langsam nach innen zu biegen. Das Bootshaus schien zu atmen. Er konnte nicht glauben, was er da gerade erlebte und blieb wie versteinert stehen.
Krrrp...
Nun erwachte auch das zerborstene Fenster zum Leben. Der Rahmen wölbte sich nach außen und knackte. Ein verbliebenes Stück der Scheibe begann dabei bedrohlich zu knistern. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Valentin, wie sich inmitten dieses Glasstücks ein Riss bildete.
Srrrp...
Er wollte einen Schritt zurück machen, was ihm allerdings nicht gelang. Der Schreck saß ihm so tief in den Gliedern, dass er die Kontrolle über seine Beine verloren hatte. Dann explodierte die Scheibe.
Krach!
Ein Ast des gespenstischen Gewächses war urplötzlich aus dem Fenster geschnellt und peitschte mit seinen messerscharfen Dornen in die Wasserlache hinein. Ein Meer aus Glasscherben schoss dabei knapp über Valentins Kopf hinweg. Er schrie auf, stolperte und landete mit dem Hosenboden in der Wasserpfütze.
"Aaaaah!"
Immerhin gewann er die Kontrolle über seine Beine zurück. Er sprang aus dem Wasser, in allerletzter Sekunde. Denn schon fegte da ein zweiter Ast aus dem Fenster. Das war genug. Valentin rannte. Er rannte, als hätte er den Leibhaftigen gesehen - bloß weg, weit weg, in absoluter Panik, beraubt jeglicher Logik und jeglicher Spur von gesundem Menschenverstand. Die Krähen erhoben sich in den düsteren Himmel und hefteten sich an seine Fersen. Und unter den teuflischen Schreien einer irrsinnigen Katze schickte eine schwere Gewitterwolke prasselnden Regen herab.
Die Wetterlage über der Waldlichtung verschlimmerte sich nun dramatisch. Aus Regen wurde Hagel, aus Hagel eine mittlere Sintflut. Irgendwann zuckten auch die Blitze wieder vom Himmel, ganz so, als hätte die verwilderte Hütte den ungebetenen Besuch bemerkt und daraufhin die süße Verlockung ungezügelten Zorns entdeckt.
Wie gelähmt starrte der Unglücksjunge von seinem Fenster aus auf das apokalyptische Treiben und wünschte sich, endlich aus diesem Alptraum zu erwachen. Doch es bestand längst kein Zweifel mehr: Er hatte das Unwetter heraufbeschworen. Er - Valentin Barnabas Kraus, der Tollpatsch, der Dummkopf, der überflüssige Junge, der alles falsch machte. Er war es, der die Kiste aus dem Laden des ehrenwerten Herrn Zacharias gestohlen hatte. Er war es, der von den Krähen verfolgt wurde. Und er war es, der das Tor zur Hölle aufgestoßen hatte.
Kapitel 17 - Grabstein und der schöne Schein
"Achtung, Leute! Stolperkrausalarm!"
"Hahahahaaaa!"
Luiza Kandinsky klappte ihr schwarzes Buch zu und steckte es zurück in ihre Manteltasche. Lesen machte einfach keinen Sinn an diesem Morgen, da sich bei diesem Lärm niemand konzentrieren konnte. Natürlich war ihr schon vorher aufgefallen, dass sich das Pickelgesicht nicht ganz zufällig am Schulhauseingang postiert hatte. Und es war auch kein Zufall, dass sein Fuß genau im richtigen Moment ein kleines Stück nach vorne rutschen musste. Jedenfalls genoss der Widerling den Zuspruch der vielen Schulterklopfer, die ihm nun von allen Seiten gratulierten, wie schön und elegant er den Tollpatsch doch von den Beinen geholt hatte. Es war Montag, und natürlich begann die neue Woche so, wie die alte geendet hatte - mit einem stolpernden Jungen und jeder Menge Spaß und Heiterkeit in den Reihen der Schüler.
Aber sie musste zugeben, dass sie zumindest in einem Punkt Recht hatten: Mit diesem Jungen stimmte tatsächlich etwas nicht. Sie hatte jedenfalls noch nie jemanden gesehen, der immerzu von einer Schar Krähen verfolgt wurde. Als die Show endlich vorüber war, beschloss sie kurzerhand, ihm eine Frage zu stellen. Eine nicht ganz unberechtigte Frage...
"Wie machst du das eigentlich...mit den Krähen?"
Die Frage traf Valentin völlig unvorbereitet. "Wer, ich?", stammelte er unbeholfen. Böser Fehltritt...
"Siehst du noch jemanden, der von den Raben verfolgt wird?"
Darauf fiel ihm keine Antwort ein. Und erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er sich schon längst wieder in der Schule befand und das schwarzhaarige Mädchen vor ihm stand.
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