Martha, rief die Stimme, dann eine Pause und wieder rief sie Martha. Aber diesmal kam sie nicht mehr aus der Ferne, sondern schien ganz nah zu sein, so als dröhnte sie aus dem beinahe völlig erloschenen Fels.
Ella umklammerte meinen Arm, während ich voller Entsetzen auf die Bühne schaute und auf die Erste Holde, die ich mit beiden Armen hektisch gestikulieren sah. Frauen aus ihrem Gefolge waren auf die Plattform gesprungen und stürzten sich gegen die Boxen, um die Stimme zum Schweigen zu bringen. Doch immer noch hörte frau, wie sie wieder und wieder “Martha” rief. Die Helferinnen der Ersten Holden schlugen nun mit ihren Fäusten wild auf die Boxen ein, schließlich trampelten sie auf ihnen herum, aber die Stimme verstummte erst in dem Augenblick, als eine von ihnen die Stecker aus den Buchsen riss.
Jetzt sitze ich vor diesem Heft, den Aufzeichnungen über Marsopolis, um es mit Sätzen über das Geschehene auszufüllen, und noch immer überläuft mich der Schauder, denke ich an das fürchterliche Ereignis zurück. Immerhin kann ich dem Leser von einem anderen fernen Planeten, der mit den Sitten und Gebräuchen auf dem Mars wenig oder gar nicht vertraut ist, mittlerweile mit der nötigen Ruhe das Ungeheuerliche erklären, wie es in diesem Jahr, dem Fünfundzwanzigsten nach der Revolution (25 n. MM), unser Fest grausam zerstörte. Zwar wusste jeder Bewohner unserer Stadt, dass Martha der Name der Ersten Holden vor ihrer Weihung durch Eana war. Doch nach dieser Weihe war sie Tochter der Göttin und bei Strafe des eigenen Lebens durfte danach niemand mehr wagen, ihren profanen Namen im Mund zu führen.
Jede, die diese klirrende, schartige Stimme hörte, wusste daher sofort, dass dies ein Anschlag auf die Würde der Frauen war, ein Aufruhr angezettelt von einem Mann entweder von einem anderen Stern oder von den Köchen in unserer Unterwelt.
Wer und wo war dieser Mann, wie konnte seine Stimme in die Boxen vor dem Felsen des Himmlischen Lichts geraten?
Das sollte lange Zeit ein Geheimnis bleiben, an dessen Aufklärung das Männchen Ego, der traurige Held dieser Geschichte, besonders beteiligt war. Von diesem Tag an nahm das Schicksal der Stadt auf dem Mars einen anderen Verlauf – auch Egos ganz persönliches Schicksal. Der vorliegende Bericht wäre nie geschrieben worden, wäre Ego nicht zu einer “Ehrenfrau” aufgerückt, was wiederum niemals geschehen wäre ohne die furchtbare Stimme aus dem Dunkel und alles, was danach sich noch ereignen sollte.
In jenem Augenblick machte das Fest und alle davon bewirkte Freude einer grellen Verzweiflung Platz. Zwar waren die Gesichter der Besucher hinter Visieren verborgen, im Halbdunkel war der Ausdruck der Panik nur zu erahnen, doch die eben noch festlich bewegte Gemeinde stob auseinander, als wäre ein Sturm oder die Sintflut hereingebrochen. Rechts und links flammten die Taschenlampen, die den Rückkehrern mit schwachem Licht den Weg durch die Hügel wiesen. Ella und Ego eilten zu dem abseits abgestellten Wagen zurück.
Als sie, in Ellas Wabe zurückgekehrt, die Helme abgelegt hatten, die Zimmertür hinter sich schlossen und Ella wie üblich das Gewissen verhängte, sprachen sie nicht mehr über die Stimme. Ego wusste, dass seine launische Gefährtin auf keinen Fall darüber sprechen würde. Sie hasste Probleme, so wie sie Zahnweh oder Bauchschmerzen hasste. Es war nicht ihre Art, über Probleme zu sprechen, aber natürlich gingen sie trotzdem in ihrem Kopf herum, nur dass sie sich von dort aus eben einen Ausweg nach außen suchten. Dieser Ausweg – das war wieder einmal er selbst: Ego.
Ihr Männer, sagte sie, habt Gaia vernichtet, ausgelöscht, einen alles verzehrenden Holocaust angezettelt. Weißt du, ich hasse alle Männer.
Dabei versetzte sie ihm einen Schlag, denn Ego gegenüber hatte sie ihre Schüchternheit inzwischen nahezu ganz eingebüßt. Natürlich war dieser Schlag nur eines der zwischen ihnen üblichen Spielchen – mit solchen Züchtigungen musste er jederzeit rechnen.
Um sie nicht weiter zu reizen, setzte Ego sogleich ein schuldbewusstes Gesicht auf. Doch vermochte er wirklich nicht einzusehen, warum gerade er, Ego, für das Unglück auf Gaia die Verantwortung tragen sollte.
Aber er war es längst gewohnt, sich als Quotenmann gewissermaßen für sein ganzes Geschlecht schuldig zu fühlen. Insofern hatte Ella zweifellos Recht. Seine Erbschuld stand ihm stets vor Augen. Sie machte ihm noch in meinen Träumen zu schaffen, so auch in dieser Nacht.
Ihm träumte nämlich, dass er ganz allein auf einer weiten Ebene stand, ringsherum nichts als Wüste. Da tauchten am Horizont Gesichter auf, die Gesichter von Frauen, die meisten waren doppelt, einige sogar dreifach so groß wie er selbst. Sie umringten ihn von allen Seiten, wobei sie näher und näher rückten. Besen trugen die einen in ihrer Hand, andere hatten sich mit Gabeln und Messern ausgerüstet, wieder andere hatten sich sogar mit Spießen bewaffnet. Ego wollte vor Angst im Boden versinken, sich ganz klein oder unsichtbar machen, aber natürlich gelang es ihm nicht. Menschen werden ja nicht einfach vom Boden verschluckt.
Der Kreis der vorrückenden Amazonen hatte ihn bereits von allen Seiten umschlossen. Schließlich waren die Megären so nahe, dass er direkt in ihre wutverzerrten Gesichter blickte.
Da streckte sich plötzlich eine Hand aus der Höhe zu ihm hinab. Sie gehörte nicht irgendwem und auch nicht unserer Ahngöttin Eana, sondern einem Mann mit wunderbar langem Bart. Es kam Ego gleich in den Sinn, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Es war derselbe lächelnde Vollbartträger, den er in einem von Gaia stammenden Buch heimlich und mit schlechtem Gewissen bewundert hatte. Ein Künstler, den sie dort Michel-Engel nannten, hatte ihn auf die Decke einer Kapelle gemalt. Mit anderen Worten: Ego träumte vom Lieben Gott, den Homo communis damals auf der Erde verehrte.
Der Bärtige wartete nicht, bis die Amazonen Ego mit ihren Besen und Spießen erreichten, sondern ergriff das Männchen einfach am Kragen und zog ihn mit leichter Hand zu sich in die Höhe, während die Frauen, ihrer Beute beraubt, ein furchtbares Wutgebrüll anstimmten.
So, sagte der Liebe Gott, für diesmal habe ich dich gerettet.
Ja, das hatte er wirklich, deshalb bedankte Ego sich auch mit einer Verbeugung, d. h. er zog die Beine etwas an, denn sein Kopf war ja unbeweglich, da ihn die Hand noch am Kragen gepackt hielt. Der Mars, ein gewaltiger Ball aus rot glänzendem Sand, lag da bereits weit unter ihm und wurde schließlich so klein wie eine Billardkugel. Die Hand aber hielt ihn immer noch und führte ihn fort und fort durch die Weiten des Alls; Sterne schwirrten an ihm vorüber, Kometen sausten ihm nahe an den Ohren vorbei. Schließlich setzte ihn der Bärtige irgendwo auf einem anderen Planeten ab.
Ach, wie lustig es dort aussah und wie fröhlich es zuging! Grüne Wiesen, durchbrochen von bewaldeten Hügeln, lockten ihn schon während des Anflugs hinunter, Flüsse voll klarem nach Honig duftendem Wasser plätscherten darüber hin. Zwischen hochragenden Bäumen lagen Löwen und gähnten friedlich, während Schafe in ihrer Nähe das fette Gras weideten. Da wusste Ego: Der Bärtige hatte ihn im Paradies abgesetzt.
Der freundlichste Empfang wurde ihm dort bereitet. Die Schafe blökten, ein Kamel leckte ihm kameradschaftlich die Schulter, und die Pferde stimmten ein freudiges Gewieher an. Er seinerseits sprach sie mit menschlichen Worten an, aber sie verstanden ihn nicht, sondern antworteten mit Geblök oder Gewieher und der Esel mit einem heiseren IA. Da machte Ego sich gleich auf den Weg, denn im Paradies musste es doch auch menschliche Wesen geben und nicht nur die unsterblichen Seelen von Ameisen, Ratten, Pferden und Löwen. Schön war es hier zweifellos, aber ein Mensch braucht doch Menschen in seiner Nähe, um sich mit ihnen in menschlicher Sprache auszutauschen. So lief er denn weiter und weiter. Doch so lange und so weit er auch lief, überall traf er nur Ziegen, Hasen und gähnende Leoparden. Gibt es hier denn gar keine Menschen?, rief Ego über die Wiesen.
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