Diesmal fühlte sich Ego allerdings nicht länger bedrückt. Der Anblick der leuchtenden Stadt überwältigte ihn.
Diese Stadt, flüsterte er mit stockender Stimme, sie ist ein Abbild des Universums. Sie gehört den fünf Holden und den fünf Göttinnen, allen voran Eana.
Ego hob die linke Hand mit den fünf Fingern, wie das in Marsopolis üblich ist, wenn der Name der fünf Göttinnen fällt und begann das „Mutterunser“ zu murmeln.
Mutter unser, groß bist Du und heilig. Unsichtbar weilst Du in unserer Mitte. Du bist Eana, die Göttliche im Himmel und die Holde auf Erden. Führe uns nicht zum Mann, sondern wehre das Böse ab und die Machos. Denn Dein ist die Kraft und die Weiblichkeit. Amen.
Hör auf, unterbrach ihn Ella. Das weiß doch jeder, dass unsere Stadt ein Abbild des Universums ist und dass sie den fünf Holden gehört. Warum tust du so feierlich?
Ellas Worte rannen ihm wie eine kalte Dusche über den Rücken. Ist sie denn ganz gleichgültig gegen das Erhabene? War nur er selbst mit einer so empfindlichen Natur geschlagen? Sie ist eben eine Frau, versuchte er sich zu beruhigen; da braucht sie vor nichts und vor niemandem Respekt zu haben. Ich bin leider nur ein viel zu sensibler Mann.
Seine Zunge hielt Ego daraufhin sorgsam im Zaum, zumal ihn die Erinnerung überwältigte. Wehmütig dachte er an den Moment im Jahr 6 n. MM zurück, als eine Gruppe von Frauen ihn zum ersten Mal auf diesen Hügel führte, denn er feierte gerade seinen vierten Geburtstag.
Schau, sagte eine von ihnen und wies mit der Hand auf den Sternenteppich oben am Himmel.
Dort irgendwo befindet sich die schreckliche Gaia. Aufrecht gehende Affen wohnen dort, die zwar über eine Sprache verfügen, aber unter der Fuchtel der Köche stehen. Deswegen gibt es bei ihnen keine Vernunft. Ewiger Hass herrscht unter ihnen und mordend fallen sie übereinander her. Du bist zwar als Männchen auf die Welt gekommen, aber du wurdest nach wissenschaftlichen Grundsätzen geplant. Deswegen bist Du von milder Wesensart und hast das Glück in der Welt der Frauen zu leben.
Ja, hatte Ego damals geflüstert und sich glücklich gefühlt, damals war er ja noch ein Kind.
Ella hatte sich wieder ans Steuer gesetzt. Sie ließ Ego nie auf die Fahrerseite, weil sie wie alle Frauen davon überzeugt war, dass die angeborene Intelligenz des homo communis dafür nicht reichte – und die Genies waren in einer solchen Situation natürlich ohnehin überfordert.
Den Genies fehlt es nicht an Intelligenz – das gewiss nicht. Sie sind mit Maschinen sogar besser vertraut als wir Frauen. Denke doch einmal an GK, sagte Ella, der sämtliche existierenden Maschinen kennt und die nicht existierenden am laufenden Band dazu erfindet. Aber, wie Du weißt, sind die Gründerväter, völlig lebensuntüchtig. Einen Wagen, den können sie zwar im Kopf entwerfen, aber sie sind außerstande, ihn mit ihren Armen zu lenken. Nur wir Frauen besitzen beides zugleich, eine siegreiche Intelligenz und dazu noch eine sichere Hand. Da bleiben sämtliche Männer hoffnungslos hinter uns zurück, der Homo communis ebenso wie die Genies.
Ego nickte. Sie sprach ja nur eine von der Wissenschaft längst erwiesene Wahrheit aus. Aber warum musste sie ihn auch an einem Festtag wie dem heutigen an seine Minderwertigkeit erinnern?
Am Quell des Himmlischen Lichts
Endlich angekommen! Vor ihnen öffnete sich die Bagronitschlucht mit dem breiten Tal und von einem Moment auf den anderen blickten sie auf den Berg des Himmlischen Lichts. Vorläufig war der allerdings noch ein ganz gewöhnlicher, wenn auch ziemlich hoch aufragender Fels, beleckt und in seinen Ausbuchtungen bekleckert von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Ella fuhr mit voller Geschwindigkeit in das Tal, um dann so stark auf die Bremse zu steigen, dass der Wagen mit blockierten Rädern ein ganzes Stück über die Piste aus Rollsplitt glitt. Das war so ihre Art und machte ihr großes Vergnügen. Natürlich wollte sie Ego damit noch einmal einen kräftigen Schrecken einjagen, und ihr zu Gefallen tat dieser auch so, als wäre ihr dieses Vorhaben gelungen. In Wahrheit hatte er sie aber bereits durchschaut und rechnete von vornherein mit derartigen Launen. Ego hatte die Hände rechtzeitig gegen die Armaturen gestemmt, sonst wäre er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprellt.
Sie zogen sich lachend die Helme über den Kopf, hingen einander gegenseitig die Sauerstoffflaschen über den Rücken und sprangen aus dem Gefährt. Gerade schickte sich die rot glühende Sonne an, über den Horizont hinter dem Berg in die Nacht zu rollen.
Kaum war sie abgetaucht, als augenblicklich tiefste Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über sie fiel. Im gleichen Augenblick spürte Ego an seinen Händen die schneidende Abendkälte, die ihm bis unter die dick gepolsterten Ärmel drang. Von Süden her drang allerdings ein bläulicher Schimmer, denn Freund Phobos, der kleine Mond, den sie auch den Geliebten Eanas nennen, tropfte ein lächerliches Rinnsal matten Lichts auf sie hinab.
Sie waren die letzten hundert Meter zu Fuß gegangen, bis dorthin, wo die wartenden Menschenmassen sich zu einer schwarzen Masse verklumpten. Und dann geschah es: das große Wunder, um dessentwillen sie alle gekommen waren. Das Wunder, welches die Marsbewohner jedes Mal wieder zum Staunen bringt. Unmittelbar nach dem Untergang der Sonne geschieht es jeden Tag immer von neuem und wird noch dann geschehen, wenn das All längst geschrumpft und alle Menschen gestorben sind. Aus dem scheinbar toten Felsen sprudelt, kocht und schäumt es hervor: grüne und blaue Kaskaden von Licht.
Die Niagaras!
In breitem Strom rauscht es den Fels hinunter, um dann, kaum dass es dessen Grenze zur Ebene erreicht, augenblicklich, wie aufgesogen von einem Schwamm, im Nichts zu verrinnen.
Dieser erste Augenblick, da das Licht aus dem eben noch finsteren Felsen hervorschießt, gleicht einer Offenbarung. Die dicht gedrängten Menschen schrien hinter den Helmen ihre Ohs und Ahs, als es vor ihren Augen so wogte und glühte. Die Vernunft war angesichts dieses Anblicks betäubt, obwohl die Wissenschaft das Phänomen natürlich längst erklärt und tausende von Malen bis ins Detail beschrieben hatte. Tagsüber saugte sich der aus reinem Bagronit bestehende Fels mit den Photonen der Sonne voll, speicherte sie sozusagen in seinen mikroskopischen Poren, bis die kristalline Struktur damit zum Bersten gefüllt war. Kaum war die Sonne dann hinter den Horizont abgetaucht, so dass der von außen einwirkende Druck der Photonen geringer war als der innere des gespeicherten Lichts, brach das Letztere auf einmal mit entfesseltem Ungestüm aus dem Felsen hervor.
Im Grunde war das also ein ganz natürlicher Vorgang – den die Genies in Marsopolis längst in exakten Formeln beschrieben hatten. Doch die Masse ist nun einmal von der Wissenschaft schwer erreichbar. Wer dieses Spektakel zum ersten Mal miterlebte, der war felsenfest überzeugt, einem unglaublichen Wunder beizuwohnen. Als hinlänglich gebildeter Mann wusste Ego zudem, dass auf Gaia weder Bagronit existiert noch solche phosphoreszierenden, abwechselnd grün- und bläulich schimmernden Lichtkaskaden. Das Phänomen scheint einzigartig im ganzen bekannten All zu sein.
Ella hatte den Geliebten an die Hand genommen und drückte ihn an sich, weil die Geburt des Himmlischen Lichts, wie man in Marsopolis sagt, als glückverheißendes Omen gilt, das allen Zwist beseitigt und angeblich jeden Wunsch zur Erfüllung bringt. Auch Ego sprach insgeheim einen Wunsch aus, natürlich denselben, den er jedes Jahr aufs neue flüsterte, aber so leise, dass ihn niemand hörte: Ach, wäre ich doch eine Frau!
Während das Licht in blau-grünen Schlangenleibern die Felswand hinabzüngelte, spannten Helferinnen eine etwa zehn Meter hohe Leinwand auf, vor der die Erste Holde in diesem Augenblick auf das Podium trat. Scheinwerfer richteten sich auf ihre Gestalt, ihr Gesicht war unter dem Helm zwar nicht zu erkennen, aber ihr Abbild in Überlebensgröße auf die Leinwand projiziert. Das ergab einen überraschenden Effekt. Es sah gerade so aus, als würde sie in einem grünen Wasserfall baden. Die „Holde im Himmlischen Licht“ nennt man auf dem Mars diesen einzigartigen Augenblick.
Читать дальше