„Ein Fenster.“ Sie kratzte mit den blanken Fingernägeln mühsam den Frost von der Scheibe und spähte hinein. „Verdammt, ist das kalt!“ Ein älterer, gepflegter 1er BMW stand in der sonst leeren, sauberen Garage. Das Fahrzeug war weder nass noch hatten sich feuchte Spuren von den Reifen oder herabtropfender Nässe gebildet. Es sah blitzeblank aus, wie gerade vom Autohändler gekommen.
„Und?“
„Mit ihrem Auto ist sie wohl nicht gefahren.“ Sie machte sich eine Notiz. „Wir werden die Taxizentralen befragen, ob jemand unser Opfer befördert hat. Da bin ich mir zu 99 % sicher.“
„Das kann Stefan am Montag übernehmen.“
„Gute Idee.“ Stefan Tauchnitz war auf ihrer Dienststelle der Mann für jegliche Beschaffungen von Informationen. „Also, die Schleifspuren im Flur gehören definitiv zu den Stiefeln der Toten. Das konnte mir die Spurensicherung bereits versichern. Wir haben, abgesehen von unseren eigenen und denen der Einsatzkräfte, vier weitere, verschiedene Schuhspuren. Das erste Profil gehört wiederum zum Opfer, das zweite zu Frau Schmidt, der Haushälterin. Die anderen zwei gehören, nach erster Einschätzung der Spurensicherung, zu Männerschuhen, die sich im Haus verteilen. Zum einen wären das eine Art Wanderschuhe oder Winterstiefel. Die anderen gehören vermutlich zu Herrenschnürschuhen. Das wirft die nächsten Fragen auf. Wer befand sich noch im Haus? Wann? Und aus welchem Grund? Und auf welche Art kamen diese noch unidentifizierten Personen hinein.“
Beide wussten keine Antworten darauf.
Conny setzte zu einer neuen Frage an. „Wie lange braucht man mit dem Taxi eigentlich vom Flughafen bis hier her? Ich bin diese Strecke noch nie selbst mit dem Auto gefahren. Mit der S-Bahn ist es viel bequemer und stressfreier.“
„Tja, in Anbetracht der Witterungsverhältnisse bestimmt 50 Minuten. Dazu kommt noch die Zeit zwischen vollständigem Halt des Flugzeuges sowie Aussteigen der Fluggäste und Ankunft am Taxistand. Wenn es gut geht, sagen wir eine dreiviertel bis eine Stunde. Vielleicht auch länger. Kommt darauf an, wie lange die Passagiere am Ausgabeband auf ihr Gepäck warten müssen und ob der Zoll die Koffer kontrollieren will.“
„Dann war Frau Kurz also gegen drei Uhr zu Hause.“
„Schon möglich.“
Müller nickte nachdenklich, machte ein paar Stichpunkte auf ihrem Notizblock und fuhr dann mit einer anderen Frage fort, während ihr die Fingerspitzen bereits abfroren. „Erinnerst du dich noch an die Spuren auf dem Zuweg?“
„Ja. Nachdem nun ein Dutzend Leute darüber getrampelt sind, können wir die wohl vergessen.“
„Nicht ganz, verehrter Kollege. Die Spurensicherung hat an dem Zuweg keinerlei Interesse gezeigt. Wir wissen allerdings, dass sich darunter auch Schleifspuren und Laufspuren von verschiedenen Schuhprofilen befanden. Das stellt sich mir die Frage, wie diese Spuren zustande kamen?“
„Doktor Kurz muss wohl ins Haus und dann bis zur Couch geschleift worden sein?“
„Kluger Gedanke. Hm, vom Taxifahrer oder von dem zweiten Unbekannten? Oder von beiden? Aber warum? Ließ ihr gesundheitlicher Zustand bereits zu wünschen übrig oder wurde sie absichtlich in die Bewusstlosigkeit katapultiert?“
Auf jeden Fall hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt.“
„Kannten sich die zwei uns Unbekannten etwa? Trafen sie sich zufällig? Ach nein, vergiss das! Das ist Unsinn! Wahrscheinlicher ist es, dass der zweite Unbekannte dem Taxifahrer und Frau Kurz auflauerte und auf die Gelegenheit wartete, ins Haus zu schlüpfen, bevor die Tür ins Schloss fiel. Das heißt aber auch, dass der zweite Unbekannte genau über Frau Kurz und ihre Reisezeiten Bescheid wusste.“
„Die Wahrscheinlichkeit deiner Theorien liegt bei Fünfzig zu Fünfzig. Alles ist möglich.“
„Ich liebe diese Rätsel und wie sich dann alles Stück für Stück zusammenfügt“, warf Constanze herzlich ein und ihre Augen glänzten voller Enthusiasmus.
Michael griente kurz zurück. Er verstand seine Kollegin sehr gut. „Die Kollegen von der Spurensicherung konnten keinen Hinweis auf eine Manipulation des Haustürschloss feststellen. Die Terrassentür fanden sie ebenfalls verschlossen vor. Genau wie sämtliche Fenster. Einen Keller gibt es nicht, ebenso keine Dachfenster. Nur die Revisionsöffnung. Wie kamen die anderen zwei Personen also ins Haus? Öffnete das Opfer ihnen die Tür? Gab es einen Zweitschlüssel? Er wird wohl kaum unter der Fußmatte oder im Blumenkübel gelegen haben, die es hier, nebenbei bemerkt, gar nicht gibt.“
„Ebenfalls mögliche Theorien. Spontan fällt mir dazu allerdings keine Antwort ein. Ich fürchte, wir tappen noch tüchtig im Dunkeln.“
„Sieht ganz danach aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir den Lichtschalter finden. Was ist mit den Sachen aus der Aktentasche, die auf der Couch lagen? Hat das Opfer selbst oder tatsächlich jemand anderes – einer der noch nicht identifizierten Personen eventuell – nach etwas bestimmten gesucht? Trug sie etwas bei sich, das für den zweiten Unbekannten von großer Bedeutung war? Er es stehlen musste, um es zu erlangen?“
„Hm, im Moment können wir dies zwar in Betracht ziehen, aber noch nicht bestätigen. Komischerweise ist ihr Koffer nicht ausgeräumt.“
„Schlafzimmer und Esszimmer sind unberührt. Im Bad wurden mehrere Blutspuren an unterschiedlichen Stellen entdeckt. Im Labor wird es auf Zugehörigkeit untersucht. Möglicherweise gab es auch einen Kampf. Die Duschbürste, die sichergestellt wurde, zeigte Blutspuren und ein silbergraues Haar, genau wie an einem Handtuch, und am Hinterkopf der Toten haben die Kollegen der Spurensicherung ein angeschwollenes Hämatom entdeckt, dass definitiv nicht vom Sturz auf den Küchenboden herrührte. Nach ihrer Schätzung ist es mehrere Stunden alt. Vermutlich stammt es von einem Sturz im Bad.“
„Frau Kurz hat definitiv kein silbergraues Haar.“
„Scharf beobachtet.“
„Sie litt doch an Diabetes. Möglicherweise war sie unterzuckert und gestürzt. Das würde auch den vielen Traubenzucker und die Unmengen aufgerissener Schokoladenpackungen erklären.“
„Diese Überlegung sollten wir in Betracht ziehen. Obwohl ich meine, dass ein bis zwei Teelöffel Traubenzucker ausgereicht hätten, um den Blutzucker wieder zu stabilisieren.“
„Ist das so?“
Conny nickte. „Was ist mit der Visitenkarte, die neben der Toten lag?“ fragte seine Kollegin. „Wo ist die überhaupt?“
Michael grinste schelmisch und zog sie aus einer seiner Gesäßtaschen hervor.“
„Alles da, wo es sein soll“, lächelte er. „Die konnte ich unbemerkt einstecken, bevor es jemand merkte.“
„Inklusive mir“, beschwerte sich Conny. „Trotzdem: Sehr gut. Darum wird sich ebenfalls Stefan am Montag kümmern. Ich bin gespannt, welche Beziehung es zwischen dem Institut für Plastische Chirurgie in München und Doktor Kurz gibt … äh gab.“
„Oder wir recherchieren selbst.“
„Oder das. Wir haben nachher genügend Zeit.“
Sie schwiegen eine Weile und starrten auf die vereinzelt, toten Ameisen, deren Spur sich im Garten des Grundstückes verlor.
„Und was ist mit den ganzen Insekten? Wo kommen die her? Das will mir einfach nicht in den Kopf“, überlegte Conny kopfschüttelnd. „Was haben die mit der ganzen Sache zu tun? Kann das denn ein Zufall sein?“
„Das weiß ich auch nicht, aber an Zufälle glaube ich eher nicht. Ich hoffe jedenfalls, dass unser lieber Doktor Esser uns mehr dazu sagen kann. Er wird mit Sicherheit die gerichtsmedizinische Sektion an dem Leichnam durchführen.“
„Dann wird dieser Zwerg von Doktor Gabriel sicher auch mit von der Partie sein. Du weißt doch, nach § 89 StPO müssen zwei Ärzte dabei sein, wobei einer ein Gerichtsmediziner sein muss.“
„Ist mir schon ewig bekannt. - Hast du dir alles notiert, Conny?“
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