Ferry wechselte in seine Lee Jeans, ein schwarzes T-Shirt und einen fleckigen, ehemals blauen Hoodie von Helly Hanson. Seine Windjacke nahm er auch aus dem Spind, behielt sie aber in der Hand, statt sie überzustreifen. Er schlüpfte in seine silbrigen ON-Sneakers, die den Pilotenschuhen sehr ähnlich waren. Nur die Sohle war dicker und weicher und damit auch bequemer.
Sie verliessen die Toilette und durchquerten die kleinere Kommandozentrale von P0. Auch hier folgten ihnen alle Blicke. Die Wache an der Panzertür grinste die beiden breit an und hielt beide Daumen hoch.
Sie stiegen die Treppen hoch und traten hinaus auf die Börsenstrasse. Die Sonne schien und es war ungewöhnlich warm für Mitte Mai. Es war später Nachmittag. Die Bäume standen bereits in frischem, sattem Grün. Als Ferry losgezogen war, waren nur die ersten jungen Blättchen zu sehen gewesen und alles hatte zu blühen begonnen. Es schien wirklich so zu sein, dass sie einen ganzen Monat verbummelt hatten. Sie gingen schweigend zur Tramhaltestelle Börsenstrasse. Ein Tram der Linie 2 kam fast augenblicklich. Tickets brauchten sie nicht zu lösen, denn beide hatten eine ZVV Karte. Jedenfalls nahm Ferry an, dass Laura noch eine hatte. Soviel er wusste, wohnte sie nach wie vor etwas ausserhalb von Zürich, in einem kasernenartigen Block mit winzigen Wohnungen, die das Corps den Vollzeitpiloten zur Verfügung stellte. Laura hatte auf dem Flug durch den Nebel jedenfalls nichts anderes erwähnt. Dass sie mit ihm ins Tram stieg, beruhigte Ferry, das konnte nur bedeuten, dass sie mit zu ihm nach Hause kam! Er hoffte, dass sie sich bald beruhigen würde und sie über die Schwangerschaft sprechen konnten.
Sobald sie eingestiegen waren, verspürte Ferry die gleiche Sensation wie immer, wenn er Tram fuhr: es fühlte sich an, als ob alle Energie aus ihm herausgesogen wurde! Augenblicklich fühlte er sich schlapp und ausgelaugt... Trams waren in Ferrys Augen eine absolut energiefreie Zone!
Das lag vermutlich daran, dass Trams so gebaut waren, dass die gesamte Energie, die über die Fahrleitung zugeführt wurde, automatisch in die Antriebsmaschine gelenkt wurde, hatte er sich ausgerechnet. Zusätzlich schien der riesige Faradaysche Käfig sämtliche Restenergie über die Schienen abzuführen. Ferry vermutete, dass deshalb die Menschen in den Trams auch immer mies drauf waren... Was er irgendwie verständlich fand, wenn man ihnen die ganze Energie entzog! Er schaute sich um und fühlte sich bestätigt: unbeteiligte, mürrisch wirkende Menschen mit fahlen Gesichtern, die wie abgeschaltet auf ihren harten Sitzen sassen oder sich verzweifelt an einer der Stangen festkrallten. Aus diesem Grund fuhr er nicht gerne Tram, aber es war in der Stadt halt einfach praktisch…
Auch Laura schien abgeschaltet zu sein: sie starrte mit leerem Blick aus dem Fenster, schien aber nicht wahrzunehmen, was sie sah.
Sie fuhren bis zum Lochergut und gingen die wenigen Schritte bis zu Ferrys Wohnung in der Bertastrasse zu Fuss. Als sie am Stauffacher vorbeigefahren waren, hatte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal an sein Bistro gedacht, das dort ganz in der Nähe lag. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es einen Monat lang geschlossen gewesen war! Er würde keine schöne Überraschung erleben, wenn er die Kühlschränke öffnete. Wahrscheinlich musste er alles wegwerfen und Grossputz machen. Doch das spielte jetzt gerade eine sehr untergeordnete Rolle, fand er.
Er schloss die Haustüre auf und liess Laura ein. Automatisch öffnete er den Briefkasten, der von Rechnungen und Werbung überquoll und leerte ihn. Sie stiegen hinauf in den ersten Stock und Ferry öffnete die Tür zu seiner kleinen Wohnung. Es roch muffig nach Staub und kaltem Rauch. Er liess die Post auf ein Möbel beim Eingang fallen, legte seinen riesigen Schlüsselbund daneben und steuerte direkt auf die Balkontüre zu, um sie weit zu öffnen. Dann ging er ins Schlafzimmer und öffnete auch dort ein Fenster. Danach das gleiche Spiel in der winzigen, altmodischen Küche mit den absurd hässlichen, braunen Kacheln, die wahrscheinlich noch aus den Siebzigern stammten. Frische, süsse Frühlingsluft strömte herein. Irgendwo in der Nachbarschaft war jemand am Backen. Ferry tippte auf Apfelwähe mit echter, rauchiger Bourbon-Vanille im Guss. Er freute sich für die unbekannten Nachbarn, die bald in den Genuss dieser kleinen Kostbarkeit kommen würden. Er selbst hatte keinen Hunger, dazu war er zu aufgeregt.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, wo sich Laura auf sein schmuddeliges Sofa hatte fallenlassen. Sie hatte die Schuhe abgestreift und die Füsse angezogen. Vor der Brust hielt sie ein Kissen, welches sie fest umklammerte. Sie starrte ein Loch in die Unendlichkeit und schien immer noch abwesend. Durch die offene Balkontüre hörte man das Rauschen der Laubbäume in der Strasse und das muntere Zwitschern von Vögeln.
"Willst du etwas trinken?", fragte er. Sie schaute zu ihm auf und schien ihn erst jetzt wahrzunehmen.
"Schnaps.", sagte sie schnell und bestimmt.
"Findest du das eine gute Idee in deinem Zustand?", fragte er zurück. Farbe kehrte in ihr bleiches Gesicht zurück. Zu viel Farbe: sie wurde wütend!
"Meinem Zustand? Meinem ZUSTAND? Ich bin nicht krank, sondern schwanger! Und genau deshalb brauche ich jetzt einen Schnaps! Weil ich nicht weiss, wie ich mit meinem neuen ZUSTAND umgehen soll!" Sie hatte ihn richtig angefaucht. Dann also Schnaps.
"Whisky oder Rum? Mehr hab' ich nicht.", gab er zurück.
"Rum. Doppelt!", schnappte sie. Er nickte und ging zu einem kleinen Glasschrank in der Ecke des Zimmers, in dem ein paar Gläser und zwei Flaschen standen. Dass es ein doppelter Rum werden würde, war ihm schon klar gewesen. Er machte aus Prinzip nur doppelte Drinks. Er sah keinen Reiz in Gläsern, die nur einen nassen Boden hatten. Wenn man trinken wollte, wollte man trinken und nicht in ein fast leeres Glas schauen…
Schweigend goss er drei Fingerbreit Diplomatico in einen Schwenker und reichte ihn Laura. Sich selbst goss er einen grossen Bunnahabhain ein, zwölfjährigen. Er setzte sich zu Laura aufs Sofa und hob den schweren Tumbler an.
"Auf Atlantis, die Heimkehr, dass wir unsere Jobs noch haben… und Eltern werden!", brachte er einen Toast aus. Laura sah ihn aus schwarzen Augen lange an. Dann hob sie das Glas, prostete ihm zu und nahm einen grossen Schluck. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper, doch dann seufzte sie tief und nahm noch einen Schluck. Ferry nippte genüsslich an seinem Whisky, der herrlich nach Honig, Heidekraut und Meeresbrise duftete. Einen Moment lang schwiegen beide.
"Es tut mir leid.", begann Laura. Sie schien sich beruhigt zu haben und die Wutesröte war abgeklungen. Dafür hatte ihr der Rum rote Bäckchen ins Gesicht gezaubert. Sie schien verlegen, was Ferry als fremd empfand.
"Was denn?", fragte er zurück und nahm noch einen kleinen Schluck von seinem Islay Single Malt. Sie schaute ihn an, als ob er begriffsstutzig sei.
"Dass ich schwanger bin, natürlich!", sagte sie mit weinerlicher Stimme. "Ich habe schon ewig keine Pille mehr genommen… War ja auch nicht nötig, weil mein Freund mich verlassen hat! Vor drei Jahren!" Der letzte Teil war ziemlich vorwurfsvoll gekommen. Tja, das musste er auf seine Kappe nehmen. Es freute ihn jedoch, dass sie scheinbar keinen anderen gehabt hatte in der Zeit ihrer Trennung. Und er war froh, dass das Kind offensichtlich von ihm war; er hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Er lächelte sie an und legte eine Hand auf ihr Knie und drückte es sanft.
"Es muss dir nicht leidtun. Es ist ja nicht allein deine Schuld, es braucht immer zwei dazu… Wir sind beide erwachsen, wir hatten Sex und wir wissen, dass das passieren kann. Ich hatte ja auch keine Kondome dabei! Ist also mindestens so meine Schuld wie deine… Wenn man überhaupt von Schuld reden will…" Entgegnete er. Laura schaute ihm in die Augen mit diesem Blick, den er nur schwer lesen konnte. Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Whisky, atmete tief durch, schluckte, suchte Blickkontakt und fuhr schliesslich fort: "Laura - ich finde es schön, dass du schwanger bist! Ehrlich! Und ich finde es noch schöner, dass du von mir schwanger bist! Ich kann es noch nicht richtig fassen, aber ich freue mich darauf, Vater zu werden. Ein Kind mit dir, das ist… fantastisch!" Er griff nach ihrer Hand, zog sie zu sich und drückte einen sanften Kuss auf den Handrücken. Dann senkte er den Blick und starrte auf den abgeschossenen Sofabezug. Nach einer Weile hob er den Kopf und sah Tränen in Lauras Augen stehen. Sie schaute ihn irgendwie sehnsüchtig an, doch er glaubte, auch Unsicherheit, Angst und Wut in ihrem Ausdruck zu lesen.
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