Erwartungsfroh schreibt er am 1. März in seinen Taschenkalender: „Noch 2.400 Meilen“ (ca. 4.460 km). Zwei Wochen später hat das Einerlei ein Ende. In Brisbane, der Hauptstadt des Bundesstaates Queensland, an Land und sofort die Post aus Deutschland in Empfang genommen. Der Lloyd-Dampfer ‚ESTE‘ ist auch schon da. Im ‚Deutschen Club‘ in der Albion Street in Sydney grüßt die Heimat. Tropisch warm ist es im australischen Herbst in Brisbane, subtropisch in Sydney. Dann wird es kühler in Melbourne, und in Adelaide ist es nur noch trocken und mediterran: „The dryest city in the dryest state of the dryest country of the dryest continent of the world“. Mit einem Wort: Trockener geht’s nimmer.
Die Plätze, an die sie verholen, heißen ‚Mercantile Wharf‘ (Brisbane), ‚Orient Line Pier‘ in Sydney, ‚Victoria Dock‘ Melbourne oder der Kohlehafen von Port Cembla. Alle verheißen viel und harte Arbeit. In Melbourne wird die ganze Nacht Ladung gelöscht, und im Industriehafen von Whyalla werden schließlich 5.000 Tonnen Erz geladen. Da zahlt sich dann aus, dass Rudi die langen Wochen auf See am Ladegeschirr gearbeitet hat.

Bucht von Wellington
Auf dem Weg nach Wellington, Neuseeland, kommen sie in einen schweren Sturm, so dass sie beidrehen müssen. Fünf Tage im Hafen der ‚windy city‘, und nun geht es dann den ganzen langen Weg, über 11.000 km, zurück in 21 Tagen nach Panama. ‚Zutörnen‘ bleibt das Stichwort: Deckwaschpumpe, Dampfpfeife, Steckdosen an Deck – all das steht auf der Reparaturliste. Nur einmal wird die Routine unterbrochen: am „nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ – gemeint ist der 1. Mai, der in jenem Jahr auf einen Samstag fällt. Der Kapitän hält in der Messe eine markige Ansprache, Punkt 11 Uhr.

Wellington – New Zeeland

Am 7. Mai „Ankunft Panamakanal“. Fast drei Monate hat die Fahrt der ‚ERLANGEN‘ gedauert.

Eine Braut in Baltimore
Das Gute am Panama-Kanal ist, dass man sich vorher etwas dorthin bestellen kann. Bei der Abfahrt von Cristobal Colon erhält man es zollfrei. „Bestellung erhalten“, notiert Rudi in seinem Taschenkalender unter „8. Mai 1937“. Auch was er so gebraucht hat nach dreimonatiger Fahrt in die südliche Hemisphäre lässt der Seemann wissen: „2 Oberhemden, 3 Unterhemden, 3 Unterhosen, 1.000 Camel“ (Zigaretten) „12 x Palmolive Seife, 2 Pakete Waschpulver“. Ansonsten muss er für Getränke zahlen, immerhin 40,90 M. Viel Geld, und auch das Briefporto, aber Kost und Logis sind frei.
Jetzt heißt es nur noch, die Ladung der ‚ERLANGEN‘ möglichst rasch an ihren Bestimmungsort zu befördern. 5.000 Tonnen Erz aus Australien, die landen nach vierzehn Tagen in Baltimore, Maryland in den Hochöfen des ‚Sparrow Point‘ Stahlwerks von Bethlehem Steel. Damit ist die erste Reise dann definitiv beendet, der Zielhafen gefunden. Wenn das Schiff nach Galveston (Texas) noch Tampico (Mexiko) anläuft, so sind dies Zwischenladungen wie Ölfässer, die sie nach New Orleans bringen. Nur diesmal haben sie Pech: Ein Turbinenschaden hält sie eine Woche lang im Ölhafen von Tampico fest, aber die endgültige Reparatur ist mit Bordmitteln nicht zu bewältigen. Sie müssen in New Orleans in die Werft, in die ‚Todd Johnson Docks‘ zur Instandsetzung. Das dauert seine vierzehn Tage, ist aber eine prima Zeit, während der Rudi freie Tage genießen kann. Tagsüber ins Schwimmbad (15 US-Cent). Einmal mieten sich die Kollegen sogar ein Auto und verbringen den Abend und die Nacht im Erholungsgebiet am Lake Pontchartrain. Dies ist eine Salzwasserlagune im Mississippi-Delta. Am nächsten Tag stehen sie pünktlich um 7 Uhr wieder auf Deck. Ein tolles Leben voller ungewohnt freier Tage in jenem Juni 1937.
Erst im Juli geht’s dann wieder los, direkt zum Panama-Kanal. Balboa an der Pazifik-Küste gilt als Start- und Ziellinie: Beginn der zweiten Reise am 9. Juli, 15 Uhr. Wie schon bei der letzten Fahrt, bekommt Rudi in Balboa die bestellten Sachen. Diesmal ist sogar eine Zeitung aus Köln dabei. Auch muss hier das Schiff seine Kohlebunker für den Eigenbedarf vor der großen Fahrt ergänzen. Diesmal sind es 280 Tonnen. Eine Kohle-Messfahrt in den ersten Tagen auf See ergibt, dass die ‚ERLANGEN‘ exakt 21.149 kg, also ungefähr 21 Tonnen, in 12 Stunden benötigt. Die lange Überfahrt ist ausgefüllt mit tagtäglichen Reparaturen und seltenen freien Tagen – ganze zwei Sonntage im Juli.
Auch fällt ein Tag im Kalender einfach aus und ist durch einen Querstrich gekennzeichnet. Wie kommt denn das? Rudi und sein Schiff haben die Datumsgrenze überquert, die von Pol zu Pol durch den Pazifik verläuft, etwa entlang des 180. Längengrads. Der seemännische Merkspruch für Logbucheintragungen lautet folgendermaßen: Von Ost nach West – halt’s Datum fest. Von West nach Ost – lass Datum los. Rudi fährt diesmal von West nach Ost und verliert Samstag, den 31. Juli. Anders als sein literarisches Vorbild Phileas Fogg im Roman von Jules Verne ‚In 80 Tagen um die Welt‘, der den Globus in ost-westlicher Richtung umrundet und die Datumsgrenze samt dem hinzugefügten Tag ‚vergisst‘. So glaubt er, die Wette verloren zu haben. Die Tücken der Datumsgrenze aber verleihen dem Roman sein unerwartetes Happy End am Zielort London.
Wie auch immer – Rudi trifft nach knapp einem Monat Pazifikfahrt in Brisbane ein, und es folgen die bekannten Häfen. Ab Mitte des Monats August wird er sogar vom Ingenieur-Assistenten zum 4. Ingenieur befördert, und das ohne Patent und ohne Besuch der Ingenieurschule. Aus lauter Freude kauft er sich in Sydney eine Uhr. Auch muss er diese Nachricht sofort seinen Eltern mitteilen. Das ist ihm ein Herzensanliegen.

Von Sydney aus schickt er einen Luftpost-Brief nach Köln, und es folgen solche von Melbourne und wiederum Sydney am Ende des Monats. Ist das überhaupt möglich? Können die Australier das überhaupt? ‚Yes, we can!‘ beharren sie.

Seit Januar 1934 konnte eine Luftpostroute nach England eingerichtet worden. Quantas, die Airline mit dem Känguru, hüpft die Post nach Indien. Von dort wird sie von Imperial Airways nach GB übernommen.

Rudi nimmt das als technischen Fortschritt dankbar zur Kenntnis.
Dieser hat auch seine unangenehmen Seiten. Da meldet sich doch wahrhaftig die NSDAP auf der anderen Seite der Welt bei Rudi und will partout einen Fragebogen ausgefüllt haben. Meist dreht es sich ja um Ahnen, den Ariernachweis. Eine Obsession, die die Partei bis ans andere Ende der Welt treibt? Es scheint so.
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