Mit einer kleinen Bewegung des Kopfes beendet Marwinger dieses Ritual. Ohne Übergang ist er wieder in seinem grobstofflichen Körper. Er verlässt den Raum, die Tür schließt sich automatisch, er nimmt den Fahrstuhl ins EG, tritt auf den Vorplatz seines Anwesens, wo bereits der Helikopter mit rotierenden Blättern auf ihn wartet.
7. 11:00 Uhr, im Flugzeug über dem Atlantik
Die Stewardess in der 1. Klasse der Boing 747 bleibt vor ihm stehen.
„Sie sind Herr Brouden, stimmt's?“, spricht sie ihn vorsichtig an, als sie ihm einen Espresso auf den runden Tisch vor ihm serviert. Niclas Brouden ist gerade darin vertieft, das vor ihm liegende Gespräch durchzugehen. Dafür macht er sich Notizen in einem Notebook.
„Ja“, erwidert er daher kurz.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe. Ich … mein Vater war ein großer Verehrer von Ihnen. Er hat mir viel über Sie erzählt. In meiner Grundschulzeit haben wir ihre öffentlichen Auftritte und ihre Interviews gemeinsam im Fernsehen verfolgt. Nicht viele Politiker sind so ehrlich, mutig und aufrichtig wie Sie, Mr. Brouden.“
Niclas Brouden löst seinen Blick und schaut sie an. Er sieht sofort ein, dass sich diese Entscheidung gelohnt hat.
„Das ist ja nun schon eine Weile her, dass ich in der Politik tätig war. Aber, danke! Danke für die Komplimente. Mit den von Ihnen genannten Eigenschaften war es zuweilen nicht leicht, in der Öffentlichkeit zu stehen. Interpretieren Sie das nicht als arrogant. Ich kenne mich halt mit meinen 65 Jahren schon ganz gut. Das, was Sie in ein Kompliment verkleiden, habe ich dutzendfach als Warnung, Schmähung oder Beleidigung vernommen.“
Die Frau lächelt unsicher.
„Entschuldigen Sie, ich musste Sie einfach ansprechen. Ich sehe, Sie haben zu tun. Sind sie hinter den Kulissen immer noch politisch tätig?“
„Nicht wirklich, ich engagiere mich in einer NGO, die sich für den Erhalt der Artenvielfalt auf unserem Globus einsetzt. Oder besser gesagt, für die Verlangsamung der Artendezimierung.“
Brouden ist Profi durch und durch. Niemals würde er die wichtigsten Vorsichtsregeln vergessen. Auch wenn ihm das in diesem Fall etwas schwerer fällt, denn die Stewardess ist ausgesprochen attraktiv. Der enganliegende Dress der Airline betont ihre Rundungen, vor allem der offene Knopf ihrer weißen Bluse lässt sein Blut höher schlagen. Er konzentriert sich darauf, ihr in die Augen zu schauen. Aber auch das hilft ihm nicht, seine Körperreaktionen zu beruhigen. Was für eine russische Schönheit, schießt es ihm durch den Kopf. Volle, rote und ungeschminkte Lippen, hohe Wangenknochen, große, tiefbraune Augen mit etwas Rouge, fast schwarze, glatte Haare, die hinten zu einem Zopf gebunden sind.
„Wie heißen Sie?“ entfährt es ihm, ohne dass er diese Frage eigentlich stellen wollte.
„Marilyn Makariwa. Mein Vater ist Russe, meine Mutter Amerikanerin. Wenn ich nicht in der Gegend rumfliege, lebe ich in New York. Und Sie?“
„Mein Heim steht unweit von Ottawa.“
Sich der Wirkung ihres Äußeren bewusst, wird sie direkter: „Ich gebe Ihnen einfach mal meine Karte. Zu gerne würde ich mich mit Ihnen mal ausgiebiger unterhalten. Falls Sie dazu bereit wären und mal ein Fünkchen Zeit übrig haben, können Sie sich ja mal melden. New York und Ottawa sind ja ein Katzensprung auseinander.“
„Vielen Dank. Lassen wir uns überraschen“, erwidert Brouden, nimmt die Karte entgegen und versucht, sich wieder auf seine Notizen zu konzentrieren.
8. 13:30 Uhr, Moskau
Ein gewöhnliches russisches Taxi bringt Niclas Brouden in den Kreml. Er kommt immer wieder gerne hier her, er schätzt die majestätische Einrichtung des Gebäudes, genauso wie den klaren und hellen Verstand seines obersten Bewohners. Ein Staatsbeamter führt ihn durch die langen, prunkvollen Gänge in eines der Büros des russischen Präsidenten. Dieser empfängt ihn an der Tür. Herzlich schütteln sie die Hände. Nach ein paar Floskeln setzen sie sich neben einen Empfangstisch auf zwei rustikale Sessel aus der Zarenzeit. Tee und Knabbereien sind serviert.
Der Präsident, wie gewohnt ohne Umschweife: „Was führt dich zu mir?“
„Ich habe erfreuliche Nachrichten, sehr erfreuliche, die ich dir nur persönlich übermitteln kann. Ich bin überzeugt, du stimmst mit mir überein.“
Da der Präsident keine Anstalten macht, etwas zu sagen, fährt Brouden fort.
„Die höheren Intelligenzen der Erde und unserer Galaxie sind überein gekommen, dass es Zeit ist für einen erfolgversprechenden Versuch, das dunkle Netzwerk ein für alle mal aufzulösen...“
Brouden berichtet in allen Einzelheiten von den Ereignissen der letzten beiden Tage. Die Mimik des Präsidenten hellt sich zusehends auf. Schließlich drückt er einen Knopf. Nach wenigen Sekunden erscheint ein Bediensteter in der Tür.
„Bitte bringen Sie uns eine Flasche Sekt, den besten, den wir haben.“
Brouden überrascht die Reaktion des Präsidenten nicht. Dafür kennen sie sich bereits zu gut.
„dein Optimismus ehrt mich. Aber ich teile ihn.“
Der Präsident lehnt sich in seinem Sessel zurück und breitet die Arme aus: „Weißt du, auf diesen Moment habe ich fast mein ganzes Leben lang hin gearbeitet. Lass ihn uns einen Moment genießen.“
Nachdem die Gläser gefüllt sind, stehen die beiden Politiker auf, stoßen feierlich an und prosten sich zu.
Der Russe spricht: „Auf lichtvolle Zeiten. Auf ein Ende des Irrsinns. Auf eine Zukunft, in der die Träume eines jeden Menschen guten Willens auf dieser Erde wahr werden.“
Nach diesem feierlichen Moment werden sie wieder ernst und setzen sich. Der Präsident: „Was ist zu tun?“
„Versammle so schnell als möglich die wichtigsten 200 Staatsbeamten deines Landes. Mach es irgendwo, wo du ganz sicher bist, dass niemand mithören kann. Informiere deine Leute. Gib ihnen Anweisungen, was nächsten Montag, also in genau einer Woche, zu tun ist. Vorher passiert nichts, das musst du mir versprechen. Und alle Anwesenden müssen Stillschweigen wahren bis nächsten Montag.“
„Was für Anweisungen?“
„Warte, zwei Sachen noch: In Russland halten sich derzeit sieben Personen auf, die am Sonntag inhaftiert werden sollten. Hier ist die Liste. Ich denke, das ist kein Problem für dich. Ferner schlage ich vor, dass du für Donnerstag eine Zusammenkunft der BRICS-Allianz (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) organisierst. Offiziell kannst du als Grund den Antrag weiterer Länder zur Aufnahme in diese Allianz vorgeben. Lass erneut keine Sicherheitsvorkehrungen ungenutzt, um sicher zu gehen, dass niemand lauscht. Treff dich nur mit den Staatsoberhäuptern.“
„Wir werden alles Notwendige veranlassen, das neue Finanzsystem so schnell als möglich und reibungslos als möglich umzusetzen.“
„Gut, hier bist du der Experte. Dann übergebe bei dem Treffen die gleichen Anweisungen, die du auch deinen Staatsbeamten aufträgst. Auf diese Weise können wir gewährleisten, dass kein Chaos ausbricht. Die Anweisungen sind ...“
9. 13:45 Uhr, Manhattan, New York
„Wann sehen wir uns wieder?“
In Inuas Stimme klingt Wehmut und Besorgtheit mit. Es fällt beiden ziemlich schwer, sich nach den intimen Tagen, die sie miteinander verbracht haben, zu trennen.
„Ich kann es dir nicht sagen, das weißt du. Du weißt, dass ich keine Ahnung habe, was mich heute, morgen, die ganze nächste Woche erwartet. Aber ich hoffe auch, dass ich Pausen haben werde. Wann arbeitest du die nächsten Tage?“
„Ich werde vormittags überwiegend zu Hause arbeiten, ab ca. 14 Uhr bin ich dann im Büro zu erreichen.“
„Okay, Schatz, ich ruf dich an, sobald ich kann. Und bitte glaub mir: Du bist geschützt. Mach dir keine Sorgen. --- Ich muss gehen.“
Energisch löst sich Arnim aus der Umarmung, öffnet die Beifahrertür und verschwindet in der Menge, die sich in den U-Bahn-Eingang drängelt.
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