Damit erhebt sich der Mentor und stellt sich vor den riesigen Bergkristall. Arnim und Greg springen auf, obwohl beide noch voll damit beschäftigt sind, das eben Gehörte zu verdauen.
„Schiebt mal mit.“
Gemeinsam rücken sie den Kristall von seinem Platz. Der Kristall ruhte auf einer runden Edelholzplatte, zwei Meter im Durchmesser. Im dem Moment, als die drei Männer von der Platte treten, gleitet sie mit einem leisen Surren vollautomatisch zur Seite weg. Die übrigen acht des Teams springen neugierig auf. Eine gut beleuchtete Treppe wird erkennbar.
„Mir nach.“
Der Mentor steigt als erster in die Tiefe. In mehreren Wendungen geht es nach unten.
Minutenlang, es scheint kein Ende zu nehmen. Nicht direkt einsehbare Deckenlichter beleuchten das Treppenhaus taghell. Schließlich, eine halbe Stunde könnte vergangen sein, enden die Stufen abrupt kurz vor einer unscheinbaren Tür. Arnim fragt sich, wie tief sie wohl hier unter der Erdoberfläche sind.
„Meine Herren, halten Sie sich fest“, bemerkt der Mentor schalkhaft. Er öffnet die Tür. Arnim erwartet, wie alle anderen wahrscheinlich auch, in den Fels gehauene, von Technik geprägte fensterlose Röhren oder Räume zu erblicken. Stattdessen betreten sie eine Landschaft, mit Bäumen, Blumenwiesen, Häusern, Bächen und Tieren. Selbst ein Himmel schimmert bläulich.
Alle Mitglieder des Teams erstarren vor Staunen.
„Mein Gott“, entfährt es Greg. „Was ist das denn? Eine optische Täuschung? Ein riesiges Hologramm?“
„Mitnichten“, erwidert der Mentor, „Ihr könnt eure Münder wieder schließen. Ein paar Worte zu dem, was ihr hier seht: Die Außerirdischen haben ein vollständiges Ökosystem geschaffen. Pflanzen, die Sauerstoff produzieren, Bäche, die die Luftzirkulation anregen. Die Nahrungsmittel, die benötigt werden, bauen sie selber in Gärten an. Das Licht kommt aus mehreren Kristallen, die mit einer extrem hohen elektromagnetischen Energie derart polarisiert wurden, dass sie unsichtbare Strahlen aufnehmen und diese als sichtbares Licht wieder abgeben. Im Grunde haben sie kleine Sonnen hergestellt, die Jahrtausende leuchten... Übrigens, zur Beruhigung: Es gibt auch Fahrstühle nach oben! Ich wollte jedoch, dass ihr die Tiefe dieser Anlage zu Fuß erfasst.“
Der Mentor kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Auf den zweiten Blick fällt Arnim auf, dass es doch Unterschiede gibt zu seiner gewohnten Lebenswelt. Auch wenn der Himmel bläulich leuchtet, kann er die Konturen von Fels darüber erkennen. Er schätzt die Höhe der Decke auf 150 bis 200 Meter. Den auffälligsten Unterschied machen die Gebäude aus, deren Anzahl er auf etwa 15 schätzt. Sie sind überwiegend kuppelförmig und machen den Anschein, aus sich selbst heraus zu glänzen. Alles überragend steht in der Mitte der Landschaft eine weißstrahlende Pyramide, auf die mehrere Wege zulaufen.
„Und das alles direkt unter New York!“, raunt Peter seinen Freunden zu. Der Anblick lässt sie vor Ehrfurcht flüstern.
Der Mentor: „Es gibt noch weitere Ebenen hier drüber, die mehr unterirdischen Anlagen ähneln, wie ihr sie euch bis eben vorgestellt habt: Arbeitsräume, verbunden mit Tunnelröhren. Das hier ist vor allem der Erholungsbereich.“
Er weist mit dem Arm zu einem der Kuppelgebäude.
„Dort sind wir verabredet, lasst uns gehen.“
Das Team schreitet auf schmalen Kieswegen über sanft welliges Gelände. Kaninchen, sogar Rehe grasen friedlich zwischen Büschen und Bäumen. Sie überqueren drei Bachläufe, die beruhigend plätschern, allerdings lauter und klarer als überirdisches Wasser.
„Und das ist nicht einsturzgefährdet?“ Peter lässt die Vorstellung von massigen Wolkenkratzern direkt über ihm nicht los. Der Mentor dreht sich um und läuft rückwärts, um so zu allen sprechen zu können.
„Scheinbar nicht, wir haben mehr als einen Kilometer Fels über uns. Die Widerstandsbewegung hat, das kann ich euch versichern, Messtechniken zur Verfügung, die die Spannungs-verhältnisse im Gestein minutiös erfassen.
Dieser friedliche Ort hier war übrigens, wie auch die Ebenen über uns, Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen Licht und Dunkel. Hässliche Kreaturen mit Waffen, die selbst Lichtseelen zerstören können, haben sich hier mit der Widerstandbewegung gemessen. Das erklärt auch, Arnim, warum die Einstiege ganz oben in den U-Bahntunneln kein Geheimnis sind. Die Dunklen hatten schon fast den Sieg errungen. Aber die Widerstandsbewegung hat sich zur rechten Zeit Verstärkung aus dem All geholt, so dass jetzt die Machtverhältnisse geklärt sind: Hier traut sich so erst mal jedenfalls kein Dunkelwesen runter.“
Meterhohe, abstrakte Plastiken aus verschiedenen, teilweise unbekannten Materialien verbinden sich mit der Natur zu einem kunstvollen Arrangement. Einige schillern regenbogenfarbig. Fremdartig bunte Vögel scheinen diese Skulpturen besonders zu mögen und trällern unbekannte Lieder von ihren Spitzen.
„Aaaaaahhh“, entfährt es Greg und bringt damit zur Sprache, was alle empfinden. „Ich fühle mich wie im Paradies.“
Der Mentor antwortet trocken: „Dafür wurde diese Etage gebaut. Energetisch ist dieser Ort absolut rein. Störfrequenzen von der Erdoberfläche werden vollständig reflektiert. Ein rundum heiler Platz. Die Widerstandsarbeit ist hart, da braucht es – auch für lichtvolle Außerirdische – ab und an ein wenig heimatliche Atmosphäre.“
12. 18:00 Uhr, Paradies, unter New York
Mit diesen Worten betreten sie das transparente Kuppelgebäude. Innen ist der Raum vollkommen schlicht und hell gehalten, ein Kreis aus 12 hellen Sesseln bilden das einzige Inventar. Ein stattlicher Mann in einem hell-lila Gewand schüttelt jedem Einzelnen zur Begrüßung herzlich die Hände. Er trägt kurzes, schwarzes Haar. Sein harmonisches Gesicht wirkt fast androgyn und irgendwie alterslos auf Arnim. Gespannt und gleichzeitig entspannt setzt er sich hin. Sein Blick bleibt an den Bewegungen des Mannes haften.
„Man nennt mich Sasua Meno. Ich stamme ursprünglich vom Sirius. Ich halte mich, nach eurer Zeitrechnung, seit 15 Jahren hier auf. Wenn die nächste Woche so verläuft, wie wir uns das wünschen, werde ich die Erde in Kürze verlassen. Ich habe die Ehre, euch auf den heutigen Einsatz vorzubereiten.“
Er blickt in die Runde.
„Ich sehe, dass euch eure wahren Gegner nicht wirklich bekannt sind.“
Wieder fühlt sich Arnim – wie bei Taamo Lumen – eigenartig durchleuchtet.
„Die Menschen auf der Erde, die der Dunkelseite verfallen sind, können eine Menge Unheil anrichten. Diejenigen allerdings, denen sie dienen, sind weitaus verheerender in ihrer Wirkung auf das gesamte Menschheitskollektiv als auch in ihrer destruktiven Intelligenz.
Wir nennen sie die Parasindel. Eure alten Schriften, der Hindus, der Ägypter, auch das Alte Testament legen Zeugnis ab von ihrer Existenz. Sie sind überwiegend nicht physischer Natur und beherrschen die Menschheit seit langem; vor allem über die astralen und ätherischen Dimensionen. Sie sind Meister darin, mit elektromagnetischen Wellen und Feldern das Bewusstsein, die Gedanken und Emotionen der Menschen zu kontrollieren und zu dirigieren. Das Bewusstsein der Menschheit ist genauso manipuliert wie euer Erbgut. Sie haben mit ihren Methoden ein dunkles, elektromagnetisches Gitternetz um die Erde gelegt, das uns ihre gewünschte Version der Realität vorgaukelt: die Matrix. So kommt es, dass die allermeisten Menschen die Umrisse ihres Käfigs nicht erkennen können.“
Arnim läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Er spürt, wie ein weiterer, wichtiger Mosaikstein dem Puzzle seines Weltbildes zugefügt wird.
„Zur Geschichte der Parasindel gehört es, dass sie den göttlichen Seelenfunken, der uns Menschen ausnahmslos eigen ist, verloren haben. Sie haben sich zu weit in die Dunkelheit hinab gewagt. Deswegen sind sie von unserer Energie abhängig. Darum sind sie auch meistens körperlos, denn zu einer Physis fehlt ihnen schlichtweg die konstante Kraft.
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