„Was denkst du?“, flüstert ihm Inua ins Ohr, nachdem sie gut eine halbe Stunde gelaufen sind, wortlos dem Schauspiel der Natur lauschend.
Arnim strahlt sie an. Von den Entwicklungen der letzten Wochen mitgerissen, fühlt er sich einerseits vitalisiert, geradezu euphorisiert, andererseits ein wenig überrumpelt. Wie in einem schnellen Strom schwimmend, der manchmal seine Kontrolle zu verlieren scheint. So kommt es ihm jedenfalls vor. Es fordert ihn, der er in seinem bisherigen Leben gerne die Zügel des Geschehens in der Hand hielt, heraus, die Beherrschung zu verlieren und sich vertrauensvoll dem hinzugeben, was gerade passiert. Sich einer Dynamik und einer Vehemenz hinzugeben, die sich seinem Einfluss entzieht.
„Ich muss mal wieder über die Weisheit meines Mentors schmunzeln. Als er uns gestern in den Urlaub schickte, war ich elektrisiert. Ich habe mich nie aufgeladener gefühlt“.
„Ich kann dir versichern, dass das nicht unbemerkt an mir vorüber ging. Ich dachte: Ups, Arnim mein ADHS-Hampelmännchen.“
Beide müssen lachen.
Arnim: „Jedenfalls habe ich nicht verstanden, was der Break bringen soll. Wie? dachte ich. Noch mehr aufladen? Wie soll das gehen?“
Sein Handy klingelt.
„Nichts im Leben hätte mich mehr in Leistungsbereitschaft versetzen können als die Nachricht, dass es
LOS GEHT!!!“
Arnim hebt das Telefon an sein Ohr.
„Was geht los?“ Sein Mentor hat die letzten Worte aufgeschnappt.
„Hallo! Na, das SDF!“
„Sei bitte vorsichtig. Schalte das Handy aus und nimmt die Karte raus.“
„Okay, mach ich.“
„Das war alles. Schöne Zeit!“
Bevor Arnim sich verabschieden kann, ist die Verbindung unterbrochen. Er schaltet das Handy aus und nimmt die Karte raus. Einen kurzen Moment ist er leicht verunsichert. Muss ich wirklich so vorsichtig sein?
Er schüttelt den Gedanken ab: „Mein Gott, ich krieg immer noch Gänsehaut. ----
Aber jetzt weiß ich: Ich glich einem Stromnetz, dessen Leitungen zu dünn sind für die Menge an Energie, die da durchfließen soll. Ich brauche das hier wirklich, das merke ich jetzt. Die letzten Wochen waren, obwohl ich es gestern nicht gespürt habe, extrem intensiv und anstrengend.“
Inua küsst ihn sanft auf die Wange. Er bleibt stehen, sie umschlingen sich, leidenschaftlich küssend. Es ist noch so frisch für ihn, erfüllt ihn mit einem Entzücken, das nur einer langen Entbehrung folgen kann. Sein jahrelang brachliegendes Depot der Zärtlichkeit ist noch nicht ansatzweise aufgefüllt.
Keine zwei Wochen ist es her, dass sich die beiden das erste Mal begegnet sind. In der New Yorker U-Bahn. Als sie in sein Abteil stieg und sich ihm schräg gegenüber auf die Bank setzte, folgte er ihren Bewegungen. Kurz trafen sich ihre Blicke. Sein Herz pochte augenblicklich. Er versuchte, sich wieder in seine Lektüre zu vertiefen. Doch seine Konzentration war dahin.
Er konnte nicht anders, als sie immer wieder zu betrachten, vorsichtig, respektvoll. Dann plötzlich blieben sie aneinander hängen. Entspannt und aufmerksam erwiderte sie seinen Blick. Seine Augen tauchten in die Tiefen ihrer grünblauen, glänzenden Iris ein. In seinem Magen verschob sich etwas. Aus dem Nichts heraus strickte sich ein intimes Band durch die Anonymität des U-Bahn-Waggons. Arnims Herz hämmerte in seinem Kopf. Er wunderte sich, dass er die Erkenntnis, dass seine Wangen erröteten, recht neutral entgegen nahm - wie von außen betrachtet. Nach einer kleinen Ewigkeit schaffte es die Stimme aus dem Lautsprecher, in einen Winkel seines Bewusstseins vorzudringen. Hier muss ich aussteigen. Er stand auf, ohne seinen Blick von ihr zu lösen. Das Erlebnis war so intensiv, dass es ganz natürlich für ihn schien, dass sie ebenfalls aufstand und mit ihm die U-Bahn verließ. Auf dem Bahnsteig sprach er die ersten Worte: „Laufen wir ein wenig gemeinsam in den Park?“
„Gerne“, erwiderte sie.
Danach schwiegen beide erstmal wieder eine ganze Weile, dem heftigen, rhythmischen Schlagen in ihren Körpern lauschend.
Zwei Tage später hatte Arnim Zeit, sie wieder zu sehen. Sie trafen sich in einem chinesischen Restaurant. Gegen Mitternacht landeten sie in ihrem Apartment, im 36. Stock eines Hochhauses mitten in Manhattan. Am nächsten Morgen war beiden klar – ohne dafür Worte zu benötigen -, dass ihre Wege sich nicht nur gekreuzt hatten, sondern von nun an auch vereinigt sind. 15 lange Jahre war bei Arnim nichts mit dem anderen Geschlecht gelaufen. Um so glücklicher fühlte er sich an diesem Morgen. Wie neu geboren.
Gleichzeitig bemerken beide ein Leuchten im Augenwinkel. Sie lösen sich voneinander und erblicken den ersten Streifen der aufgehenden, tieforangenen Sonne. Sie setzen sich in den Sand und verfolgen das Naturschauspiel.
„Ich erinnere mich gerade daran,“ sagt Arnim, als die Sonne einen Halbkreis auf den Meeresspiegel bildet, „dass mir vor Jahren mal ein alter Mann sagte, wie man mit der Sonne kommunizieren kann. Der Mann war der Häuptling eines Indianerstamms mitten im peruanischen Urwald. Er gab sein Alter mit 115 Jahren an. So sah er auch aus, runzlig und zahnlos. Jedenfalls sagte er, dass es ganz einfach sei, mit der Sonne zu sprechen. Voraussetzung sei, in der Sonne – wie in allem im Universum – ein intelligentes, lebendiges Wesen zu erkennen. Die Sonne, sagte er, ist ein Gott! Schau sie an, wenn sie direkt über dem Horizont steht, und stell einfach Fragen. Geh davon aus, dass es das Natürlichste überhaupt ist, dass du Antworten erhältst.“
„Hast du es mal probiert?“
„Nein.“
„Und jetzt? Sollen wir es versuchen?“
Arnim zögert.
„Im Augenblick habe ich keine Fragen.“
Dann: „Du weißt, wie heilsam es ist, in das Gestirn zu schauen, wenn es morgens über dem Horizont erscheint und abends wieder dahinter verschwindet?“
„Ja.“
Gerade, als sich die Sonne vollständig aus dem Meer erhoben hat, erreicht ein Motorengeräusch sein Bewusstsein und zwingt ihn, sich von dem Anblick zu lösen. Richtung Norden schauend erfasst er einen Jeep, der in hoher Geschwindigkeit den Strand hinunter auf sie zufährt, vielleicht noch 400 Meter entfernt.
„Meinst du, das Auto hat was mit uns zu tun?“, fragt Inua mit leicht beunruhigter Stimme.
„Pssst, bitte sei kurz still“, erwidert Arnim.
Inua weiß, warum. Wenige Sekunden später sind zwei Männer in dem Jeep zu erkennen. Der Beifahrer hält ein Gewehr in der Hand.
„Bleib entspannt, wir sind geschützt“, sagt Arnim betont ruhig, denn ihm ist klar, dass diese Situation für seine Partnerin ziemlich gewöhnungsbedürftig sein muss. Ihn versetzt es, das wird ihm in diesem Moment schlagartig bewusst, in eine schon fast routinemäßige, aber vollkonzentrierte Aufmerksamkeit. Mehr nicht. Keine Angst. Wahrscheinlich ein Erbe meiner Kriegserfahrungen.
Der Jeep ist auf 50 Meter ran, der Beifahrer hebt sein Gewehr. Plötzlich geht alles ganz schnell. Ein gleißend weißer, gebündelter Lichtstrahl trifft für einen kurzen Moment senkrecht von oben auf die Mitte der Motorhaube. Er hinterlässt ein ca. 50 cm großes Loch darin. Die zwei Gestalten springen Sekundenbruchteile später bei voller Fahrt aus dem offenen Jeep, der unmittelbar darauf in einer Feuerwolke explodiert. Während die Männer wie Stuntpuppen über den Sand purzeln, rollt das brennende Gefährt in wenigen Metern Abstand an Arnim und Inua vorbei.
Er umgreift Inuas Handgelenke und löst ihre verkrampften Hände von seinen Oberarmen.
„Hey, entspann dich. Wir sind sicher. Hast du das gesehen? ---- Die Männer haben keine weiteren Waffen.“
Ruhigen Schrittes ermächtigt er sich des Gewehrs, das nicht weit vor ihnen im Sand liegt.
„Bist du sicher?“, wispert Inua, noch ziemlich perplex.
„Ja, absolut, die Information kam klar rüber.“
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