Wie das Bild im Reiseführer, denkt sie, als sie langsam über den im Wasser festen Sand ins Meer läuft. Nach circa fünfzig Metern reicht ihr das Wasser zum Schritt. Sie bleibt einen Moment stehen, bevor sie losschwimmt und nach fünfhundert Metern das Ende der Bucht erreicht. Jetzt werden die Wellen höher, und Renate schwimmt, zunächst auf dem Rücken, zurück zum Ufer. Sie steigt aus dem Wasser, glaubt dabei, immer schwerer zu werden. Zu erschöpft, das Handtuch auszubreiten, legt sie sich in den Sand.
Später überlegt sie, ob sie nicht einfach hier am Strand übernachten soll, als zuerst leichter Wind aufkommt, der dann aber an Stärke zunimmt und trockenen Sand aufwirbelt. Am Himmel werden erste Wolken sichtbar. Renate zieht sich wieder an, geht zurück zum Auto. Ihr Wagen steht im Windschatten der drei Häuser. In der Nähe entdeckt sie einen Granitfelsbrocken, den sie als Tisch nutzen kann. Sie schneidet Ciabatta auf und entfernt die Haut der Salsiccia, einer sardischen Salamispezialität. Den Rotwein trinkt sie, in Ermangelung eines entsprechenden Gefäßes, aus der Flasche. Als sie gegessen hat, ist die Sonne bereits hinter den fernen Felsenbergen verschwunden.
Das Trinken aus der Flasche hat die Kontrollmöglichkeit hinsichtlich der Weinmenge beeinträchtigt, sodass sie nicht gemerkt hat, dass fast die ganze Flasche leer ist. Sie ist erschrocken und stellt ihre Fahrtüchtigkeit infrage. Was soll‘s, denkt sie, dann schlafe ich eben im Auto.
Bevor es ganz dunkel wird, erkundet sie aber doch die nähere Umgebung. Sie geht zu den drei Holzhäusern, stellt fest, dass alle Frontfenster mit Fensterläden abgedichtet und die Türen verschlossen sind. Dann geht sie hinter die Häuser. Auch hier sind alle Fenster und Türen verschlossen, meint sie, bis sie entdeckt, dass am mittleren Haus eine Fensterklappe nur angelehnt ist. Ihre Neugier überwiegt. Sie drückt das Fenster nach innen auf, blickt in einen Raum, der wahrscheinlich das Wohnzimmer bildet. Gegenüber dem Fenster stehen um einen flachen Tisch gruppiert einige Sessel und ein Sofa. An der von ihr aus gesehen linken Wand steht ein flaches Sideboard, an der rechten ein schmiedeeisernes Gerät – ein gasbetriebener Ofen, vermutet sie. Auf dem Holzdielenboden liegen kleine Teppiche und ein Läufer in Richtung einer Tür, die sicher in einen anderen Raum oder den Hausflur führt.
Renate schaut versonnen, wünscht sich ein solches Häuschen, zumal sie die Umgebung kennengelernt hat. Aber leider ist das nicht möglich, denkt sie, zieht das Fenster wieder zu und drückt die Fensterklappe gänzlich vor das Fenster. Sie wundert sich über ihr Tun und setzt den Weg um die Häuser herum fort.
Renate weiß, dass es im Süden Europas schneller dunkel wird, als zu Hause in Deutschland, ist aber trotzdem überrascht, als sie zum Auto kommt und die Häuser kaum noch erkennen kann. Wind und Wolken haben die Temperatur im Innern des Autos nicht spürbar senken können, und so hat Renate keine Bedenken, hier auch ohne eine Decke schlafen zu können. Sie stellt Fahrer- und Beifahrersitz in die vorderste Position, will auf der Rückbank schlafen. Die Stofftasche rollt sie zu einem Kopfkissen zusammen, das große Handtuch kann sie notfalls benutzen, sollte es ihr doch zu kalt werden. Da sie in der Nähe keinen Menschen vermutet, verspürt sie auch keine Angst. Sie verschließt die Autotüren von innen, öffnet das Fenster auf der Fahrerseite einen Spalt weit.
Das Schwimmen und der Wein haben sie so ermüdet, dass sie schnell einschläft. So bemerkt sie das Auto nicht, das sich gegen Mitternacht den drei Häusern nähert. Die Detonationen der Gasflaschen, etwa eine Stunde später, können Renate Wolzow auch nicht mehr aufwecken.
Alexander Fabuschewski ist beunruhigt, als Renate um zwanzig Uhr noch nicht zurückgekehrt ist. Sollte sie doch eine längere Tour geplant, aber ihm nichts davon erzählt haben, fragt er sich. Er hat sein Handy eingeschaltet gelassen und weiß, dass auch Renate ihr Telefonino nicht ausschalten würde, wenn sie alleine unterwegs ist. Das sei eine berufliche Gewohnheit, hatte sie erzählt, seit es ihr einmal das Leben gerettet hätte, das Handy nicht ausgeschaltet zu haben. Alexander hatte nachgefragt, wollte weitere Einzelheiten wissen. Renate hatte ihn nur angeschaut und gesagt: „Du weißt schon.“
Er beruhigt sich damit, dass er sich sagt, sie würde sich schon melden, wenn etwas passiert sein sollte. So überprüft er nur den Ladezustand seines Mobiltelefons und stellt fest, dass er in Ordnung ist. Da er keine Lust verspürt, für sich alleine etwas zu kochen, geht er ins Restaurant. Dieses Mal setzt er sich nicht auf die Terrasse, sondern zieht den wärmeren Innenraum vor.
Er gesteht sich ein, dass er Renate vermisst, hat eigentlich auch gar keinen Hunger und bestellt sich deshalb lediglich einen Salatteller. Dazu ein Glas Bier der Marke Ichnusa, übersetzt die Schuhsohle, benannt nach der Form Sardiniens, die tatsächlich der einer Schuhsohle ähnelt. Der Sage nach soll die Gottheit, die die Erde erschaffen habe, zum Schluss ihres Werkes noch einen Haufen Granitfelsgestein übrig behalten haben. Diesen Haufen habe sie ins Mittelmeer geschüttet und sei mit einem Fuß darauf getreten. So hätte die Insel ihre Form erhalten.
Die Unruhe ist geblieben. Alexander wählt nun doch Renates Nummer auf seinem Handy. Er erhält keine Antwort, es meldet sich eine Ansagerin, die etwas auf Italienisch erklärt, das er nicht versteht.
Er bezahlt und macht sich auf den Weg zur Rezeption. Dort fragt er nach, ob eine Nachricht für ihn eingetroffen sei. Die Frau an der Anmeldung verneint seine Frage. Er hinterlässt seine Handy-Nummer und bittet darum, benachrichtigt zu werden, sollte eine entsprechende Nachricht eingehen. Alsdann macht er sich wieder auf den Weg zum Bungalow Nr. 74. Dort setzt er sich auf die Terrasse, will ein wenig arbeiten, kann sich aber nicht konzentrieren. Wieder versucht er, Renate anzurufen, auch dieses Mal ohne Erfolg. Eigentlich müsste er seinen Vater anrufen, könnte ihm aber nicht verschweigen, dass Renate nicht anwesend und ihm ihr Aufenthaltsort unbekannt ist. So verzichtet er darauf.
Bald weht der Wind stärker, und er setzt sich ins Wohnzimmer, verschließt die Haustür. Inzwischen ist es spät geworden, fast Mitternacht, und er rechnet nicht mehr damit, dass Renate heute noch zurückkommt. Sicher wird sie irgendwo übernachten, denkt er, und von dort aus auch erst nach dem Frühstück aufbrechen, weiß er doch, dass Renate, wenn es ihr möglich ist, zuerst frühstückt, bevor sie etwas unternimmt. So geht er zu Bett, lässt aber die Verbindungstür zum Wohnzimmer offen stehen.
Zuerst kann er nicht einschlafen, wälzt sich von einer Seite auf die andere. Dann vernimmt er ein Klopfen, ruft „herein“ – keine Reaktion. Sollte er die Tür abgeschlossen haben, fragt er sich, steht auf, stellt aber fest, dass das nicht der Fall ist. Sicher ist das wieder jenes „Traumklopfen“ gewesen, beruhigt er sich und schläft auch bald darauf ein.
Gegen sieben Uhr wird er wach, steht sofort auf und schaut im Wohnzimmer nach. Renates Bett ist unberührt. Er öffnet die Haustür. Die Sonne, die gegen sechs Uhr aufgegangen ist, steht noch rot über dem östlichen Horizont. Ein schöner Platz, denkt er, um den Sonnenaufgang beobachten zu können, und nimmt sich vor, Renate, wenn sie wieder da ist, einen entsprechenden Vorschlag zu machen.
Auf dem Küchenboard findet er in einer Papiertüte ein Brötchen, kocht sich Kaffee und setzt sich zum Frühstücken auf die Terrasse. Aber auch heute Morgen verspürt er keinen großen Appetit. Er bleibt auf der Terrasse sitzen, will sich nicht vom Haus entfernen. Um acht Uhr klingelt sein Telefon. Er wird gebeten, umgehend zur Rezeption zu kommen. Sofort macht er sich auf den Weg, nimmt Geld und Papiere mit, ahnt Schlimmes.
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