Die betroffene Schülerin hatte ihre Mutter unterrichtet, die den Fall bei der Polizei in Wetzlar zur Anzeige brachte.
Alexanders Neugier ist geweckt. Der Stoff um die Nachricht herum, das ist es, was er schaffen möchte. Dazu braucht er die Wohnung, denn er nimmt an, dass sich die Schule, von der in dem Artikel die Rede ist, in Wetzlar befindet. „Interessant, nicht wahr? Aber ich denke, so etwas hat es immer schon gegeben. Wenn ich da an meine Schulzeit denke.“
Alexander schaut erschrocken hoch. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, dass die Kellnerin an seinen Tisch getreten war.
„Ich habe Sie hoffentlich nicht zu sehr erschreckt, eigentlich wollte ich nur fragen, ob Sie noch einen Wunsch haben?“
„Nein, danke, aber Sie haben recht, ein interessanter Fall.“
„Ich kenne eine Freundin der Schülerin, sie geht in dieselbe Schule.“
„Ich glaube, ich nehme doch noch einen Kaffee, und wenn Sie einen Moment Zeit hätten, würde ich Sie bitten, mir mit einer Tasse Kaffee Gesellschaft zu leisten.“ Die Kellnerin schaut sich im Lokal um, nickt ihm zu und geht zur Theke.
Alexander ist nun wirklich erstaunt und fragt sich, ob nun vielleicht eine Glücksphase sein Leben bestimmt, als die Kellnerin zwei Tassen, ein Kännchen, Milch und Zucker auf den Tisch stellt. Sie setzt sich ihm gegenüber, schaut etwas unsicher.
Alexander stellt sich vor und berichtet kurz über den Grund seines Hierseins. Dann erklärt er ihr seine Idee.
Die Kellnerin nennt ebenfalls ihren Namen, Michelle, und sagt, dass sie ihm vielleicht bei seinen Erkundigungen helfen könne. Alexander nimmt dieses Angebot dankend an.
Inzwischen hatten einige Gäste das Lokal betreten. Die Kellnerin nimmt ihre Tasse, steht auf, zögert einen Moment, dann nimmt sie ihren Kugelschreiber und schreibt eine Telefonnummer auf den Bierdeckel.
„Sie können mich anrufen.“ Sie bringt ihre Tasse zur Theke und kümmert sich um die neuen Gäste.
Alexander wartet, bis sie an seinem Tisch vorbeikommt.
„Nur noch eine Frage?“ Sie bleibt stehen. „Können Sie mir sagen, welche Schule das ist?“
„Die Realschule ‚Am Stoppelberg‘, hier in Wetzlar.“
„Ich werde Sie anrufen und – vielen Dank.“
Jetzt müsste es nur noch mit der Wohnung klappen, denkt er, als er an dem Friseursalon vorbeigeht. In der Jackentasche der Bierdeckel, Michelle Carladis, 0171-3888975.
Er packt die notwendigen Sachen für seinen Vater zusammen. Früh war er wach geworden, wie immer, wenn sein Interesse an einer Sache geweckt ist. Im Gefrierschrank findet er eingefrorene Brötchen. Butter, Salz und Kaffee vervollständigen sein Frühstück.
Er betritt den Friseursalon und schaut sich suchend um. Noch ist kein Kunde im Geschäft. „Was kann ich für Sie tun?“ Ein Mann, etwa in seinem Alter, steht vor ihm, schaut ihn erwartungsvoll an.
„Ich möchte mir gerne die Wohnung ansehen.“
„Kein Problem, ich gebe Ihnen den Schlüssel, die Wohnung ist im dritten Stock, Sie finden sich sicher alleine zurecht.“ Er drückt ihm den Schlüssel in die Hand und wendet sich dem ersten Kunden zu, der soeben den Laden betritt.
Schwarzadlergasse, Ecke Fischmarkt. Ein historisches Gebäude, liest er: Dieses Haus war von 1606 bis 1690 Rathaus der Reichsstadt Wetzlar. Von 1693 bis 1806 Sitz und ab 1756 Kanzlei des Reichskammergerichtes. So steht es auf einer Tafel, die in die Hauswand eingelassen ist. Er weiß, dass Goethe hier von Mai bis September 1772 als Rechtspraktikant am Reichskammergericht gearbeitet hat.
„In dieser Zeit lernte er Charlotte Buff kennen.“
Erklärt gerade ein Mann seiner Begleiterin, beide offensichtlich Touristen, Videokamera umgehängt und Reiseführer in der Hand. Er fährt fort: „Als Goethe sich in sie verliebte, war sie bereits vier Jahre mit dem hannoverschen Legationssekretär Johann Christian Kestner verlobt. Die unerfüllte Liebe zu ihr machte sie zum Vorbild der Lotte im Werther, der zwei Jahre später erschien. Auch der Selbstmord Werthers hatte einen realen biografischen Hintergrund: Der braunschweigische Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem hatte sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober umgebracht, vornehmlich wegen seiner Liebe zur Ehefrau des pfälzischen Legationssekretärs. Goethe selbst wohnte Am Kornmarkt Nr. 11, zu Fuß in etwa fünf Minuten von hier zu erreichen.“
Ein gutes Training, denkt Alexander, als er die schmale Treppe bewältigt hat und die Wohnungstür aufschließt. Dahinter liegt ein nicht sehr breiter Flur. Eine Tür führt geradewegs in die Küche. Von hier aus gelangt man linker Hand in das Bad. Rechts der Küche schließt sich ein großer Wohnraum an. Vom Bad, von der Küche und von diesem Raum aus schaut man hinunter auf die Schwarzadlergasse.
Durch eine Verbindungstür kommt er in einen kleineren Raum, vielleicht ein Schlafzimmer, und wiederum durch eine Verbindungstür in ein zweites, ebenso großes Zimmer. Durch die Fenster dieser Räume sieht er hinunter auf den Fischmarkt.
Gegenüber steht das Stadthaus Am Dom mit dem Bistro im Erdgeschoss. Am Stadthaus vorbei der Dom und der namensgleiche Platz.
Die Anordnung der Räume innerhalb eines Rechtecks und ihre verbindenden Türen ermöglichen einen Rundgang – Flur, Küche, großer Wohnraum, Schlafzimmer, kleines Zimmer, Flur.
Alexander ist begeistert. Als er die Treppe hinuntersteigt, nimmt er sich vor, diese Begeisterung nicht zu zeigen, wenn es um die Höhe der Miete geht. Er weiß von sich, dass er kein Händler ist, dass es ihm schwerfällt zu versuchen, einen Preis zu drücken. Dieses Mal will er es versuchen. Coole Miene, als er den Friseursalon betritt.
„Und, gefällt sie Ihnen?“ „Ja, ganz gut, aber die Miete.“ „Was sind Sie von Beruf?“
Alexander erkennt seine Chance. „Ich bin Schriftsteller“, und damit der Mann nicht auf die Idee kommt, er könne die Miete nicht bezahlen, ergänzt er, „ich war Journalist, habe etwas zusammengespart und denke, dass ich davon etwa ein Jahr leben kann, wenn, ja wenn Sie mir mit dem Mietzins etwas entgegenkommen können.“
„Ihre Offenheit gefällt mir, sagen wir fünfhundert Euro.“
Der Mann hält ihm die Hand entgegen. Alexander schlägt ein.
„Haben Sie heute Nachmittag noch einen Termin frei, denn ich glaube, zu der neuen Wohnung gehört auch eine neue Frisur?“
„Wenn Ihnen siebzehn Uhr recht ist? Dann können wir auch gleich den Mietvertrag machen.“
Alexander ist einverstanden, nennt seinen Namen, grüßt und verlässt den Salon. Er geht um die Ecke, in die Weißadlergasse, holt die Sachen für seinen Vater und macht sich auf den Weg nach Dillenburg. Sein Vater ist wach, als er das Zimmer betritt, und macht heute schon einen besseren Eindruck. Alexander wickelt die Blumen aus, schaut sich nach einer Vase um. „Draußen, im Flur. Schön, dass du mir Blumen mitgebracht hast, auch Männer mögen Blumen, mich stimmen sie optimistisch.“
Alexander geht raus, findet aber keine Vase, geht ins Stationszimmer. Die Krankenpflegerin steht vor einem Schrank, sucht anscheinend nach einem Medikament. Alexander schaut, lässt sich Zeit, bevor er sich bemerkbar macht. Tiefschwarzes Haar, wahrscheinlich sehr lang, zu einem dicken Zopf geflochten. Sie trägt Hosen und darunter, so vermutet er, eine dieser zurzeit modernen Unterhosen, sodass ihr Hintern detailgetreu abgebildet wird. Menschen spüren den Blick im Rücken, und so dreht sie sich um. Toll denkt er noch, als sie ihn fragend anschaut.
„Ich suche eine Vase, für meinen Vater, ich meine, für die Blumen, also, ich habe meinem Vater ...“ – sie lacht. „Im Flur, gleich gegenüber dieser Tür ist ein Wandschrank, dort finden Sie Vasen.“
Er dreht sich um, sucht den Schrank, als sie noch sagt: „Schön, wenn Männer Männern Blumen schenken, aber jetzt lassen Sie mich bitte vorbei, ich habe noch zu tun.“
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