„Tante Hannelore, es tut mir wirklich leid. Ich habe mich so von ihr zur Weißglut treiben lassen, dass ich ihr das Gerücht von ihrem falschen Vater erzählt habe.“
„Was? Was denn für ein Gerücht?“
„Opa hat es meinem Vater erzählt. Es ging darum, dass dein Mann eventuell nicht Michaelas Vater ist.“
Rolf war hörbar erleichtert, als es raus war.
„Tante, es tut mir wirklich leid. Ich habe sie einfach nur ärgern wollen.“
Ich hole tief Luft und stelle fest, dass ich doch einiges vergessen habe oder verdrängt.
„Danke Rolf. Sonst hast du über nichts mit ihr gesprochen?“
Rolf versichert mir, dass er nur aus Wut so reagiert hat. Ich kann ihn gut verstehen. Michaela hat manchmal eine Art, die kann nicht jeder gut vertragen.
Klaus hat das Gespräch belauscht und besteht nun darauf, dass ich ihm alles aus meiner Vergangenheit erzähle.
„Oh Mann, Klaus.“, bettele ich. „Wo soll ich denn da anfangen. Bei der Henne oder bei dem Ei?“
Klaus kennt keine Gnade.
„Fang am Anfang an.“
Ich ziere mich und versuche ihn zu überreden, das Ganze gewaltig abzukürzen.
„Du siehst doch selbst, dass du was vergessen hast. Fang lieber bei dem Ei an. Wenn es nicht wichtig ist, dann eben nicht.“ Er meint es ernst.
„Aber Klaus, das dauert Stunden. Willst du etwa die ganze Zeit hier sitzen und zuhören, was ich langweiliges zu erzählen habe?“
„Ja, will ich. Ines bleibt auch hier und wir schreiben alles auf, was vielleicht für die Befreiung von Michaela von Bedeutung ist. Sie ist unsere Schwester und das sind wir ihr schuldig.“
Na gut. Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus. Ich war so froh, dass die Kinder sich nie für die Vergangenheit interessiert hatten. So konnte ich sie hinter mir lassen und mein Leben leben.
„Also gut. Ihr lasst mir keine andere Wahl. Ich bin an einem Samstag im Juni in Eiserfeld zur Welt gekommen. Mein Bruder Hermann war damals 6 und wenn ich meiner Mutter glauben darf, so hätte er lieber ein Fahrrad, als eine Schwester gehabt. Ich kann die Stimme meiner Mutter hören, wenn sie jedes Jahr an meinem Geburtstag die immer gleiche Geschichte erzählte.
Es war Markt und es hatte den ganzen Morgen geregnet. Von den Markisen der Markstände tropfte das Wasser. Der Frühling war viel zu kalt und nass gewesen, so dass es nur wenig Obst und Gemüse gab. Die Marktstände sollten in all den Jahren die Gleichen bleiben. Neben dem Obst und Gemüsestand war der Hühnerfrieder. Er verkaufte Eier und lebende Hühner. Gegenüber war der Stand der Rosenbergs. Sie verkauften Stoffe aller Art. Daneben der Stand des Korbmachers. Er kam immer mit einem Planwagen und hatte neben Körben auch Westerwälder Tonwaren dabei. Und dann war da noch der Kesselflicker. Er bot auch Töpfe an.
Meine Mutter war in ihr Elternhaus auf dem Marktplatz zurückgekehrt, um mich dort zur Welt zu bringen. Ihre Eltern hatten eine Bäckerei und der Lehrling sollte losgeschickt werden und die Hebamme, Lotte Bemme, holen, wenn es soweit war. Lotte hatte eine üppige Figur, war aber wieselflink. Was ihr den Namen „flotte Lotte“ einbrachte. Als es losging, war der Lehrling noch dabei Brot auszuliefern. So war die flotte Lotte erst im letzten Moment eingetroffen. Um 16.25 Uhr bin ich geboren.“
Ich hole tief Luft.
„Ach, Kinder, wollt ihr das wirklich alles hören?“
Ich schenke mir ein Glas Wasser ein.
„Mama, Klaus hat recht. Vielleicht kommen wir darauf, wer dich auf dem Kicker hat.“
Ich überlege, wo ich war.
„Ok. Da war ich dann also geboren. Mein Vater ist gleich am nächsten Tag losgelaufen und hat mit dem Pastor einen Termin für meine Taufe ausgemacht. Nach der Erzählung meiner Mutter ist ihr dieser Sonntag sehr gut in Erinnerung geblieben, weil Vater sich betrunken hatte. Er war nach dem Gottesdienst ins Wirtshaus am Markt eingekehrt und hatte ein Herrengedeck bestellt. Ein Eichener Pils und einen Steinhäger. Als der Wirt hörte, dass August zum zweiten Mal Vater geworden war, spendierte er ihm ein weiteres Herrengedeck, auf einem Bein kann man schließlich nicht stehen. Und da aller guten Dinge drei sind, wurde noch einmal von den Herren des Stammtisches nachgelegt. Man kannte sich eben. Meine Mutter war stinksauer und hat eine Woche nicht mit Vater gesprochen.“
„Wie war dein Vater sonst so?“, will Ines wissen.
„Och, August war klein, hatte einen dicken Bauch und so lange ich denken kann eine Glatze. Er war eine Knutschkugel und hat immer Maßanzüge getragen, obwohl C & A schon Anzüge von der Stange anbot, doch die konnte er nicht tragen mit seiner dicken Wampe.
Er war Laborant und hat bei der Stadt Siegen Wasserproben untersucht.
Als ich etwa 2 Jahre alt war wurde er arbeitslos und fand kurz darauf eine Stelle bei einem Stahlwerk in Hagen. Deswegen sind wir dann später dorthin gezogen. Meiner Mutter war das gar nicht recht, sie wollte nicht wegziehen. Sie war zu Hause das einzige Mädchen. Ihre vier Brüder himmelten sie an. Sie waren allesamt Bäcker geworden, wie mein Großvater. Er war ein herzensguter Mensch. Ihn konnte nichts aus der Ruhe bringen. Meine Großmutter hingegen war ein Drache. Sie führte die Bäckerei und einen kleinen Tante-Emma-Laden.“
Ich nehme einen großen Schluck Wasser.
„Obwohl wir nach Hagen gezogen sind, hat sich doch ein Großteil unseres Lebens nach wie vor in Eiserfeld abgespielt. Ich kann noch heute in Gedanken über den Marktplatz gehen und sehe alles vor mir. Der Marktplatz wurde dominiert von der Kirche und der Schule, die sich auf dem Platz genau gegenüberstanden. Vom Kirchplatz aus nach links blickend, sah man die Löwen-Apotheke. Benjamin Löwe, der Apotheker trug eine dicke Nickelbrille, ohne die er blind zu sein schien. Man sah ihn stets im weißen Kittel, darunter schwarze Hosen mit einer ordentlichen Bügelfalte. Die Krawatte saß immer tadellos. Seine Tochter Hannah sollte als Apothekerin sein Geschäft übernehmen. Die Familie wohnte im ersten Stock über der Apotheke. Marianne, die Frau des Apothekers war für ihre Siegerländer Koch- und Backkünste bekannt. Gleich daneben war die Bäckerei von meinen Großeltern.
Ein Haus weiter wohnte Dr. Winter mit seiner Haushaltshilfe. Einen anderen Arzt gab es nicht. Das alte Fachwerkhaus war mit schwarzen Schieferplatten verkleidet, so wie es im ganzen Siegerland üblich war.
Neben Dr. Winters Haus ging ein schmaler Weg zu den Feldern am Waldrand hinaus. Auf der anderen Seite des Weges streckte die Schule ihren Turm in den Himmel. Frau Lemke, die Lehrerin, war in Onkel Heini verliebt und kam gerne am Samstag, nach dem Unterricht, bei ihm in der Backstube vorbei. Sie trug ihr Haar immer zu einem strengen Dutt gebunden. Ihre Bluse war geknöpft bis unters Kinn und der schwarze Rock reichte bis zu den Knöcheln.
Rechts, neben der Schule führte ein Weg hinauf in den angrenzenden Wald. Auf der anderen Straßenseite befand sich das „Wirtshaus am Markt“. Die Familie Edelmann führte die Gaststätte schon in dritter Generation. Der Festsaal wurde für Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen ebenso, wie für politische Veranstaltungen genutzt. Im Keller gab es eine Kegelbahn.
Gleich neben dem Wirtshaus war die evangelische Kirche. Der Pastor war ein kleiner, dicklicher Mann, der stets eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine graue Strickweste trug. Sein schütteres Haar wurde schon grau. Ich glaube, er hatte drei Töchter. Das waren Zeiten damals. Als Kind habe ich gedacht, genau hier ist die heile Welt. Die kann nichts und niemand kaputt machen. Das wird für immer so bleiben. Was waren wir damals so naiv!“
Klaus unterbricht mich.
„Naiv würde ich das nicht nennen. Du warst ja selbst noch ein Kind. Und die Erwachsenen hatten damals bestimmt auch schon andere Sorgen.“
Mir geht ein Licht auf.
„Da sagst du was! Ich erinnere mich, dass sich damals schon einige Männer aus dem Ort zu geheimnisvollen Treffen zusammenfanden. Wir sollten das ja nicht mitbekommen, aber wir haben natürlich zugehört, wenn die Erwachsenen sich unterhalten haben.“
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