Zwei Bonbons kosteten einen Pfennig, eine Tafel Lakritz mit dem Einmaleins kostete fünf Pfennige und eine Zuckerstange ebenfalls. Hermann stibitzte ab und zu ein Bonbon, ansonsten zog es ihn nach draußen, um mit seinen Freunden auf dem Sportplatz Fußball zu spielen. Hermann entwickelte sich zu einem richtigen Haudegen. Nachbarn schoben das auf die Berufstätigkeit meiner Mutter. Tuschelnd standen sie auf dem Bürgersteig und zerrissen sich das Maul. Vielleicht waren sie auch einfach nur neidisch.
Auf dem Sportplatz neben unserem Haus trafen sich nachmittags alle Kinder aus der Nachbarschaft. Wir spielten Völkerball oder Seilspringen. Auch Werner kam dazu. Er stand immer am Rand und schaute zu. Von der Hitlerjugend war er befreit. Krüppel wollte man da nicht. Ich habe immer davon geträumt, etwas zu erfinden, damit er auch endlich normal gehen und spielen kann. Auch Werner hatte große Träume. Er wollte Architekt werden und am liebsten bei Walter Gropius studieren. Er schwärmte für Gropius Schule für Architektur und Kunst und die von ihm entwickelten Wohnkonzepte im Baukastenprinzip. Werner war ein guter Schüler, fehlte aber oft in der Schule. Ich besuchte ihn manchmal und versuchte ihn aufzumuntern, wenn er mal wieder das Bett hüten musste. Armer Kerl.“
Ich nehme einen großen Schluck Sekt.
„Jetzt fällt mir wieder etwas ein. Das war im Jahr 1933. Das werde ich nie vergessen. Es hat sich so in mein Gehirn gebrannt. Ich kann alles noch vor mir sehen. Es war schrecklich und ich hatte große Angst.“
„Ich glaub, es wird Zeit, dass wir erst mal etwas essen.“
Ich hole schnell mein Portemonnaie und drücke Klaus einen Zwanziger in die Hand.
„Hol uns doch bitte drei Döner, dann essen wir in Ruhe und danach können wir weitersehen.“
Es geht schon auf den Abend zu. Ich werde langsam müde. Aber nun bekomme ich die Gedanken auch nicht mehr aus dem Kopf. Die Geister, die ich rief wollen befriedigt werden. Klaus macht sich auf den Weg und ist nach einer viertel Stunde wieder zurück. Wir packen unsere Döner aus und beißen herzhaft hinein.
„Oh, was für eine leckere Sauerei!“
Mir läuft die Joghurtsoße am Kinn herunter. Ines holt noch mehr Servietten.
„Alleine hierfür ist es gut, dass Hitler den Krieg verloren hat. Wenn er das geschafft hätte, müssten wir jetzt Kartoffelbrei und Schweineleber essen.“
Ich grinse. Ines empört sich.
„Mama! Du bist eklig!“
„Ne, ehrlich.“, gebe ich den Ball zurück. „Jetzt schaut uns doch mal an. Da sitzen wir drei am Tisch und essen Döner. Wenn der Krieg anders ausgegangen wäre könnten wir jetzt keine Ü50-Party feiern.“
Ines will sich gerade wieder aufregen, von wegen Ü50, als ich mich schnell bei ihr entschuldige.
„Verzeihung mein Kind. Es ist ja wahr. Du hast ja noch fast ein Jahr, bis du das halbe Jahrhundert voll hast.“
„Mama, ich habe den Eindruck, du willst dich aus der Affäre ziehen und vom Thema ablenken.“
Ich glaube, Klaus hat recht. Ich würde mich gerne vor weiteren Erzählungen drücken. Aber der Tag ist noch zu jung, um schon aufzuhören. Ich wische mir den Mund ab. Den ganzen Döner schaffe ich nicht und schiebe den Rest zu Klaus rüber.
„Also gut, weiter geht’s. Es war der 1. April 1933. Ich weiß es noch ganz genau. Es war ein Samstag. Meine Mutter wollte mit uns zu Meister Jakob gehen, wie wir ihn nannten. Hermann brauchte dringend neue Hosen und ein neues Hemd. Am alten waren die Ärmel viel zu kurz geworden und meine Mutter hat daraus ein Kurzärmeliges zum Spielen gemacht. Ich sollte ein neues Kleid bekommen und Kniestrümpfe. Ostern stand vor der Türe.
Mein Vater wollte so lange im Laden bleiben, bis wir von unserem Einkauf zurück waren. Hermann wäre gerne bei ihm geblieben, er wollte nicht einkaufen gehen. Aber er musste mit. Ich freute mich.
Meine Mutter hatte immer eine Überraschung auf Lager. Einmal ist sie mit uns in einen Passbildautomaten gegangen und wir haben lustige Fotos gemacht. Ich muss die irgendwo noch haben.
Nun ja, egal. Dieser Samstag wurde auf jeden Fall nicht lustig. Als wir am Geschäft von Jakob ankamen, war der Laden geschlossen. Seine Fensterscheiben waren über und über mit Schmierereien überzogen, die zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufriefen. Meine Mutter war ganz entsetzt. Vor dem Geschäft standen SA-Männer, die verhindern sollten, dass Kunden den Laden betraten.
Aber Meister Jakob hatte gar nicht erst aufgemacht. Auf den Schaufenstern standen Parolen wie: Der Jude ist unser Untergang und Wer den Juden kennt, kennt den Teufel und Rassenschande. Daneben prangten Hakenkreuze und Judensterne. Meine Mutter sorgte sich um Jakob. Er war mittlerweile ein guter Freund der Familie geworden. Also gingen wir auf dem Heimweg bei der Synagoge vorbei. Meine Mutter wollte nachschauen, ob er vielleicht dort war. Auf dem Weg kamen wir auch an der koscheren Metzgerei der Familie Freund vorbei. Auch sie war geschlossen, die Fensterscheiben beschmiert. Als wir die Synagoge erreichten, waren dort ein paar Scheiben eingeworfen, aber keine Menschenseele zu sehen. Mutter zog uns hinter sich her, nach Hause. Sie hoffte, Vater würde mehr wissen. Ohne Jakob waren wir aufgeschmissen. Wir konnten nicht so viel Geld auf einmal ausgeben. Vater sparte auf ein Automobil. Dafür legte er jeden Pfennig auf Seite. Ich sehe noch das Gesicht meines Vaters vor mir. Es sprach Bände. Eine Mischung aus Wut und Entsetzen.
Das ist nur der Anfang. Murmelte er vor sich her. Das ist nur der Anfang. Die Arisierung hatte begonnen. Die 600 Hagener Juden wurden drangsaliert. Ihre Geschäfte boykottiert. Man forderte sie auf, zu gehen. Am Montag gingen wir erneut zu Meister Jakob. Er hatte wieder geöffnet, aber vor seinem Laden standen SA-Männer und wollten uns nicht hereinlassen. Ich hatte Angst, doch meine Mutter schnauzte den einen an, er solle sich zurückhalten. Er könne ihr Sohn sein und solle sich gefälligst benehmen.
Die Schaufensterscheiben waren total beschmiert. Wir gingen hinein und Jakob sah sehr traurig aus. Er machte sich große Sorgen um die Zukunft. Ingelein, mein Kind, mach dich schon mal darauf gefasst, dass ich nicht mehr ewig hier sein kann. Meine Mutter kaufte alles, was nötig war und Jakob würde nun wieder jede Woche kommen und die fällige Rate kassieren. Meine Mutter machte sich keine weiteren Gedanken und wiegelte ab, wenn Vater Bedenken äußerte. Sie hatte andere Sorgen. Sie mussten den Laden schmeißen, uns Kinder versorgen und ihrem Mann die Hemden bügeln. Ostern ging vorüber, es wurde Mai und in Berlin wurden Bücher verbrannt. Auch Einsteins Werke waren darunter.
Er hatte bereits 1932 Deutschland verlassen, um eine Reise in die USA zu unternehmen. Seine Theorien waren begehrt in aller Welt, nur nicht in seiner Heimat. Einstein kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Er wurde 1940 amerikanischer Staatsbürger.
Vater war sehr betroffen und machte seinem Unmut Luft. Er erzählte, wie er Einstein einmal in Berlin getroffen hatte. Vater war von seiner Firma zu einem Vortrag Einsteins geschickt worden. Sie hatten wohl gehofft in der Stahlentwicklung ganz neue Erkenntnisse zu erlangen. Dem war aber nicht so. Doch Vater hatte sich ganz gut mit Einstein unterhalten und war von da an, nun, man kann schon sagen, ein Fan von ihm. Wenn es das Wort auch damals noch nicht gab.
Diese ignoranten Idioten vergraulten unsere besten Köpfe. Damals verstand ich das natürlich noch nicht, aber ich hatte Ohren und hörte zu, wenn die Erwachsenen sich unterhielten. Im Gegensatz zu meinem Bruder interessierte es mich bereits sehr früh, was in der Welt los war. Vieles hat mein Vater mir auch später erzählt und ich weiß nicht wo sich Erlebtes mit Erzähltem mischt.“
„Mama, du willst uns aber nicht ernsthaft weißmachen, dass dein Vater Albert Einstein gekannt hat?“ Ines ist fassungslos und Klaus starrt mich mit offenem Mund an.
Читать дальше