„Ich habe keine Ahnung.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Nun mischt sich Hansen ein.
„Ihr Sohn hat recht. Was könnte es denn sein, dass jemand einen solchen Hass gegen Sie hegt und Ihre Tochter entführt?“
Ich denke kurz nach.
„Ganz ehrlich? Wenn mich jemand so sehr hassen würde, dann hätte er Ines mitgenommen und nicht Michaela. Wer die im Dunkeln mitnimmt, bringt sie spätestens im Hellen wieder nach Hause.“
„Mama!“
Nun ernte ich von beiden Kindern strafende Blicke.
„Ist doch wahr. Diese Kratzbürste nimmt doch keiner freiwillig mit. Außerdem muss es jemand sein, der weiß, dass ich das Haus verkauft habe. Ich hätte doch sonst gar kein Geld um ein Lösegeld zu bezahlen!“
„Sie meinen also, es muss jemand aus Ihrem Bekanntenkreis sein?“ fragt Hansen interessiert.
„Möglich. Ich weiß es doch auch nicht.“
Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Was kann ich verbrochen haben, dass mir jemand so etwas antut?
„Vielleicht eine späte Rache, wegen den Aktivitäten von Onkel Heini? Oder wegen Frieder Wagner?“
„Mama, was redest du da? Wer sind diese Leute?“, will Ines wissen.
„Ach, die leben bestimmt schon lange nicht mehr. Das sind doch alles alte Geschichten, die heute niemanden mehr interessieren.“
Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese alten Kamellen von Bedeutung sein könnten.
Dirk Hansen steht auf und packt den Erpresserbrief vorsichtig mit Handschuhen in eine Tüte.
„Den nehmen wir mit und untersuchen ihn auf Fingerabdrücke. Und Sie, Frau Klein, überlegen weiter, wer und was dahinterstecken könnte.“
Eine Polizistin nimmt meine Fingerabdrücke und dann leert sich meine Wohnung allmählich. Der Tote wird hinausgetragen, verpackt in einem schwarzen Plastiksack. Meinen Wohnzimmerteppich nehmen sie auch mit. Ich habe einen Mann erschlagen. Wie konnte ich nur? Aber was macht er auch in meiner Wohnung? Ich habe den Mann nicht gesehen, vielleicht hätte ich ihn erkannt. Ach, vielleicht will ich lieber gar nicht wissen, wer er ist.
Während Klaus und Ines klar Schiff machen, lasse ich meine Geburtstagsfeier noch einmal Revue passieren. Schließlich ist Michaela im Laufe des Abends verschwunden.
„Ich hätte einfach wieder eine Kreuzfahrt machen sollen, wie zu meinem 80. Geburtstag. Was für eine schwachsinnige Idee noch einmal ein großes Familienfest zu feiern.“
Michaela war gleich dagegen gewesen. Sie hatte mir davon abgeraten. Wollte nichts wissen von der Verwandtschaft. Sie ließ sich ungern vergleichen, vor allem im Moment, wo es mal wieder nicht gut bei ihr lief.
Ines hingegen war begeistert und sofort bereit, die Organisation zu übernehmen.
„Also, pass auf, das wird der schönste 90. Geburtstag, den du je erlebt hast.“
„Ja, und der Einzige!“ , gab ich zu bedenken.
„Am besten feierst du im Gasthaus zum fröhlichen Lamm. Ich kenne den Wirt. Der bringt dann nur den Kaffee, die Torten und Kuchen können Michaela und ich beisteuern. Dann wird es nicht so teuer.“
Ines platzte vor Begeisterung über ihre Idee.
„Für 15 Uhr planen wir den Kaffee. Danach kann Maximilian-Torben ein paar Ständchen für dich bringen. Er hat schon so lange Gitarrenunterricht, da wird er sich freuen, wenn er sein Können auch mal zeigen darf.“
Ines holte kaum Luft und ich konnte mir, bei aller Liebe, nicht vorstellen, dass mein Enkel Unterhaltungsqualitäten haben sollte. Meinem Sohn Klaus hat ein solches Gen ein Leben lang gefehlt und Maximilian-Torbens Mutter Theodora ist gänzlich temperamentfrei. Doch Ines war nicht zu bremsen.
„Wenn Maximilian-Torben fertig ist, ist es schon fast Zeit für das Abendessen. Da handle ich mit dem Wirt einen Festpreis aus. Kommen natürlich noch die Getränke dazu. Aber der macht mir bestimmt einen guten Preis.“
Also war Ines gleich am nächsten Tag losgezogen und hatte alles im Gasthaus zum Vergesslichen Lamm, oder so, organisiert. Stolz stand sie vor meiner Haustüre und berichtete von den Ergebnissen. Zur Vorspeise sollte es ein Kräutercremesüppchen geben, gefolgt von einem Schreinerostbraten mit Kroketten und Salat. Den Nachtisch vollendete eine Creme Bruelé.
Ich zog Ines in die Wohnung hinein, denn meine Nachbarn hatte das sicherlich nicht interessiert. Sie war so stolz auf sich.
„Und du bist sicher, dass das mit Michaela funktioniert?“, frage ich skeptisch.
„Aber klar, hab alles mit ihr abgesprochen.“
Ich war am Samstag pünktlich im Gasthaus zum geduldigen Lamm eingetroffen. Von der Verwandtschaft fehlte noch jede Spur. Ines war bemüht ein schönes Kuchenbuffet auf die Beine zu stellen, als Michaelas Mann, Georg, eine tiefgefrorene Schwarzwälder-Kirsch-Torte und eine ebenso steifgefrorene Eierlikörtorte im Gasthaus zum weinenden Lamm abgab. Aus den Jackentaschen zog er noch jeweils einen Marmor- und einen Sandkuchen vom Discounter, die er original verpackt auf dem Buffet platzierte. Ich konnte Ines Gesichtsfarbe gut erkennen, die immer mehr zu leuchten schien. Aufgeregt rief sie ihre Schwester an, während sie versuchte, wenigstens die Verpackungen vom Kuchen zu entfernen. Ihr Handy lag auf Freisprechen geschaltet zwischen den kulinarischen Katastrophen und ich konnte ihr Gespräch mit anhören. Michaela schien ebenfalls auf Freisprechen geklickt zu haben, denn es gab beim Sprechen ein unschönes Echo.
„Bist du wahnsinnig? (du wahnsinnig?). Was soll ich denn mit den tiefgefrorenen Torten? (den tiefgefrorenen Torten?)“
„Tut mir leid, ich kann dich nicht hören. Blondiere gerade die Haare.“
„Das ist typisch. (typisch). Bald hast du keine mehr. (eine mehr).“
Ines war sauer.
„Das habe ich verstanden!“
„Super! (per!)“ Ines legte erbost auf.
Ich konnte Michaela in Gedanken vor mir sehen. Wie sie in alten Leggins und Schlabbershirt die Blondiercreme aufgetragen hatte und dann Alufolie um den Kopf wickelte um die Wirkung des chemischen Brandbeschleunigers auf ihren Haaren zu erhöhen.
„Ist das nicht unglaublich!“, zischte Ines. „Jetzt färbt die noch ihre Haare.“
Mich wunderte schon lange nichts mehr. Vielleicht ist es auch die Gnade des Alters, dass man manche Dinge lockerer nimmt.
Ich hatte meinen Ehrenplatz am Kopf der langen Tafel eingenommen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
So nach und nach trafen die Gäste ein.
Klaus war mit seiner ganzen angeheirateten Verwandtschaft im VW-Bus angereist. Im Gepäck seine zwei Kinder, Mathilda-Lara und Maximilian-Torben samt Gitarre, seine Schwiegereltern und seine Frau Theodora, eingehüllt in eine knallblaue Federboa.
Ines hatte die gesamte Sippe angeschleppt. Dazu gehören ihre Kinder aus erster Ehe, Martina und Daniel und die neu angeheiratete Verwandtschaft samt Schwager, Schwägerin, Neffen und Nichten. Nicht zu vergessen, ihr neuer Ehegatte, Clemént mit Sohn Maxím, der auf die französische Aussprache seines Namens äußersten Wert legt, da er in Frankreich geboren ist.
Dann kamen die Kinder meines verstorbenen Bruders aus Dortmund, Rolf und Lieselotte. Außerdem eine Großcousine aus dem Siegerland mit ihrer Tochter. Die beiden waren froh, ein Zimmer im Gasthaus zum freundlichen Lamm zu haben. So mussten sie nicht mehr mit dem Auto fahren und konnten beherzt zum Alkohol greifen. Beate und Christina, Michaelas Kinder aus erster Ehe, trafen ebenfalls ein. Last but noch least erreichten auch noch meine zwei Cousinen aus dem Sauerland das Gasthaus zum tapferen Lamm . Nun waren die Gäste fast vollzählig. Bis auf Michaela und Georg.
Ich mache keinen großen Hehl daraus, dass ich nichts Anderes erwartet hatte. Die beiden müssen immer ihren großen Auftritt haben und wenn er nur daraus besteht, als Letzter zu kommen.
Michaela rauschte mit wasserstoffblondem Glanz auf mich zu, während Georg ihr hinterhereilte und hektisch an seinem Hinterteil zupfte.
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