Der alte Asiate wandte sich ihr zu und blickte sie aus weit aufgerissenen, trüben Augen an. Dann gab er einige kaum verständliche Worte von sich. Er tat dies in einer Sprache, die Sheila unbekannt war. Es gab lediglich einige wenige Wortfetzen, von denen sie meinte, sie verstanden zu haben.
Seine rechte Hand hob sich zitternd. Mit großer Kraftanstrengung nestelte er damit ein vergilbtes Stück Papier aus seiner zerrissenen und blutverschmierten Jacke hervor. Mit einem flehenden Ausdruck in seinen Augen überreichte er es an Sheila. Dazu stammelte er nochmals einige kaum verständliche Worte hervor. Sheila lauschte angestrengt und versuchte, das Gehörte auf alle Fälle im Gedächtnis zu behalten.
Plötzlich hustete der Mann heftig. Dann schüttelte es ihn in heftigen Krämpfen. Schließlich sank sein Kopf zurück und seiner Brust entrang sich noch ein letzter, tiefer Seufzer.
Die Pupillen des Alten wurden starr, der geschundene Körper sank kraftlos zur Seite.
Er war tot!
Erschüttert schloss Sheila für einen Moment ihre Augen.
Taylor und Mike, die es in der Zwischenzeit geschafft hatten, ihre Gegner zu überwältigen und zu handlichen Paketen zu verschnüren, waren neben Sie und den alten Mann getreten. Betroffen blickten sie auf das Bild, welches sich ihnen darbot.
„Zu spät ...“, murmelte Sheila leise vor sich hin.
Mit einer Hand schloss sie dann sanft die Augenlider des Toten. Einige Tränen drängten aus ihren Augenwinkeln hervor und liefen langsam, eine feuchte Spur hinterlassend, ihre Wangen hinab.
Langsam erhob sie sich wieder und blickte erst Mike, dann den Milliardär an. „Ach Taylor, warum gibt es immer nur diese sinnlose Gewalt auf der Welt?“
Trauer, Verzweiflung, aber auch hilflose Wut standen ihr ins Gesicht geschrieben.
Taylor nahm sie daraufhin sanft in seine Arme und streichelte ihr beruhigend über ihr weiches, duftendes Haar.
„Darauf kann ich dir auch keine Antwort geben, Sheila“, erwiderte er leise. „Vermutlich wird man nie eine Antwort darauf finden, warum Menschen so handeln können. Ob das jemals anders sein wird … man kann es nur hoffen. Doch über all die Jahrtausende, seit es unsere Rasse auf diesem Planeten gibt, scheinen wir nichts dazu gelernt zu haben. Intelligenz kommt wohl immer mit Dummheit im Duett daher!“
Er blickte ihr ins Gesicht und wischte dabei mit einer Hand ihre Tränen beiseite.
„Lass uns jetzt die Polizei verständigen, damit wir dies alles hier hinter uns bringen können. Wenn dann alles erledigt ist, gehen wir zu mir ins Penthouse und genehmigen uns einen handfesten Drink. Ich glaube kaum, dass jetzt einem von uns noch zum Essen zumute ist.“
Mit diesen Worten holte er sein Blackberry aus der Innentasche seines Jacketts, um über die Notrufnummer 911 die Polizei zu verständigen. Rasch schilderte er am Telefon das Vorgefallene. Danach wandte er sich wieder seinen beiden Freunden zu.
„Na, alles klar? Seid ihr OK?“, erkundigte er sich bei den Beiden.
Mike nickte nur kurz und mit verbissenem Gesichtsausdruck.
„Ich bin OK, Taylor“, sagte Sheila leise. Bei dieser kurzen Antwort brachte sie sogar schon wieder ein zaghaftes, zuversichtliches Lächeln zustande. „Der arme alte Mann ...“, fügte sie dann noch bedauernd hinzu.
Dann warteten die drei Freunde schweigend auf das Eintreffen der Polizei.
2. Die geheimnisvolle Karte
Etwa zwei Stunden später saßen Sie in den ledernen Polstern der riesigen, gemütlichen Sitzgruppe des großen Wohnraumes von Harris Penthouse beieinander. Alle drei hielten Gläser in ihren Händen, in denen Honigfarben der Whiskey schimmerte, ein 30 Jahre alter Glen Grant aus Schottland. Ab und zu knackten Eiswürfel, die in der aromatisch duftenden Flüssigkeit schwammen. Es herrschte eine sonderbare, melancholische Atmosphäre. Jeder der drei New Yorker schien dabei seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Tiefes, gemeinschaftliches Schweigen lag über allem. Mike Iron war es, der diese nachdenkliche Stille schließlich durchbrach.
„Sag mal, Sheila ...“, begann er zögerlich zu sprechen.
„Hat den der Alte gar nichts mehr gesagt? Irgendetwas wenigstens? Warum ihn zum Beispiel die beiden Typen überfallen haben?“
„Aber Mike“, sagte Taylor mit sanftem Tadel in der Stimme.
„Wir wissen doch schon von der Polizei, dass ihn die beiden nur wegen Geldes überfallen haben. Das waren ganz gewöhnliche Straßenräuber.“
„Ach ja – stimmt ja. Sorry, hatte ich vergessen“, meinte Mike entschuldigend. „Aber ich würde trotzdem gerne wissen, ob der Alte noch was von sich gegeben hat!“
Erwartungsvoll blickte er die Freundin an.
Mit stockender Stimme berichtete Sheila nun über die kaum verständlichen Worte, die der alte Asiate ihr sterbend zugemurmelt hatte, und von denen sie nicht sicher war, ob sie auch tatsächlich verstand, was ihr da an die Ohren drang,
„Ach ja, er gab mir auch noch etwas ...“, fiel ihr dann ein.
Sie erhob sich kurz, um aus der Garderobe ihre Handtasche zu holen. Nachdem sie wieder Platz genommen hatte, förderte sie daraus das vergilbte Pergament zu Tage.
„Hier – dieses Stück Papier hat er mir zugesteckt.“
Sie legte es auf den niedrigen Couchtisch ab.
„Dann hat er nochmals einige Worte gemurmelt. Kurz darauf ist er gestorben ...“
Sheila verstummte und nahm schnell einen kräftigen Schluck von dem Whiskey aus ihrem Glas.
Taylor M. Harris griff sich unterdessen das Papier.
„Na, dann lasst uns mal sehen, was wir da haben.“
Vorsichtig, um es nicht zu beschädigen, faltete er das Pergament ähnliche Material auseinander. Die neugierigen Blicke aller Anwesenden richteten sich darauf.
Die eine Hälfte des Blattes war dicht mit zum größten Teil unbekannten oder unleserlichen Schriftzeichen bedeckt, während man auf der anderen Hälfte verwirrend aussehende Symbole und Linie entdecken konnte.
Harris hob seinen Kopf und blickte sich für einen Moment suchend auf dem Couchtisch um, bis er gefunden hatte, was er benötigte: eine Fernbedienung. Schnell ergriff er das schmale, handlange Gerät. Mit einem leichten Fingerdruck auf eine der Reglertasten ließ er die Beleuchtung des Wohnraumes heller werden. Nun waren auch die Schriftzeichen und Symbole auf dem Pergament in seiner Hand besser zu erkennen.
„Da soll mich doch ...“, entfuhr es ihm gleich darauf. „Wenn das nicht eine uralte Karte ist!“
„Zeig mal her!“, forderte ihn Mike auf, nun auch neugierig geworden.
Er rutschte dichter an seinen Freund heran und musterte das Pergament in dessen Händen.
„Du hast wahrscheinlich recht, alter Industriekönig“, meinte er dann zustimmend. „Das könnte tatsächlich so etwas wie eine Art Karte sein.“
Mike Iron unterzog die Linien und Symbole einer genaueren Betrachtung. Konzentriert versuchte er, irgendeinen Sinn, etwas Bekanntes darin zu entdecken.
„Wenn ich noch nicht ganz verkalkt bin, und wenn mich meine brennenden Augen nicht täuschen, dann sieht es ganz so aus, als wenn auf dem Teil vor uns eine Art Gebirge, mit so etwas wie einem Tal darin, dargestellt ist“, sagte er nach einigen Sekunden mit dem Brustton der Überzeugung.
Taylor Harris ließ seine Hände, mit denen er bis jetzt das Pergament hoch gehalten hatte, langsam nach unten sinken. Dabei schaute er abwechselnd von Mike zu Sheila und wieder zurück. In seinen Augen konnten die beiden Freunde urplötzlich ein aufgeregt-intensives Funkeln erkennen. Die Beiden kannten dieses spezielle Glitzern, denn sie hatten es schon einige Male bei dem smarten Unternehmer erlebt. Es trat immer dann bei ihm auf, wenn Taylor M. Harris III. ein neues Abenteuer ‚roch‘.
„Sheila – dieser alte Asiate … du erwähntest doch noch irgend etwas von ein paar Worten oder Sätzen, die er gemurmelt haben soll, richtig?“, fragte er mit forschendem Unterton in der Stimmen die rothaarige Event-Managerin.
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