Harry Gaus - Überleben unter Frauen

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Vor langer Zeit hatte sich das Schicksal endgültig gegen mich entschieden, als es mir zur Klassifizierung ein kleines Y-Chromosom auf meinen Weg gab. Seitdem herrscht Unruhe in mir, die sich zu Aufruhr und innerem Sturm entfacht, sobald sich ein Lebewesen mit dem ersehnten, verehrten oder gar geliebten Doppel an „X-chen“ sehen, hören oder riechen lässt …
Schonungslos sinniert Harry Gaus nach 60 turbulenten Jahren „Lebens- und Liebeserfahrung“ über das „Glück der Liebe“, das die Natur nicht erfand, um uns glücklich zu machen, sondern damit wir unsere Spezies auch unter Enttäuschung, Kränkung und Schmerz fortpflanzen. Müssen wir die Liebe vor diesem Hintergrund fürchten oder ist all unser süßes Hoffen, unser unbezwingbares Sehnen, unser heißes Begehren die Liebe doch wert?
Tragische und amüsante Teilgeständnisse eines „philanfrauen“ Akademikers, die den Leser zu (Lach-)Tränen rühren werden.

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Harry Gaus

Überleben unter Frauen

Essay

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.

Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2021 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

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Lektorat: Alexandra Eryiĝit-Klos

ISBN 978-3-8372-2462-7

Vorwort

Vor langer Zeit hatte sich das Schicksal endgültig gegen mich entschieden, als es mir zur Klassifizierung und Stigmatisierung ein kleines Y-Chromosom auf meinen Weg gab. Seitdem herrscht Unruhe in mir, die sich zu Aufruhr und innerem Sturm entfacht, sobald sich ein Lebewesen mit dem ersehnten, verehrten oder gar geliebten Doppel an „X-chen“ sehen, hören oder riechen lässt. Die Hoffnung, das innere Klima würde mit dem Alter milder, hat sich bislang nicht bestätigt; wahrscheinlich wird das heftige Tosen verschwinden, sobald der ewige Schlaf beginnt. Doch dieser Teil des Lebens ist ungerecht: Während einige ihr Leben lang schwelgen, was regelmäßig zu Übersättigung führt, dürsten andere ein Leben lang – wonach? Die Belohnung von Doppel-X-Trägerinnen zu erhoffen, ist rational unbegreiflich, und es gibt in unserer vielfältigen Sprache nicht einmal ein akzeptables Wort dafür.

Wissenschaftler fragen neuerdings, ob sich die Evolution nicht irrte, als sie den Menschen und die meisten anderen Spezies in zwei Gruppen teilte, diese durch die Sexualität aneinanderkettete und damit deren Fortbestand zu einem unüberschaubar komplexen Vorgang aufblies, und ob dem Aufwand, der Anstrengung, dem Leiden und dem Verbrauch an Ressourcen ein angemessener Vorteil gegenüberstünde. Man ist sich unschlüssig, ob eine Demokratisierung der Fortpflanzung durch Ableger, Keimlinge oder Ähnliches einen Fortschritt brächte.

Auf jeden Fall würde vieles verloren gehen: das süße Hoffen, Sehnen, die schönsten Lieder, das Opium der Liebe.

Doch ist das Vorgenannte mehr als ein aufgeschäumtes Nichts, mehr als eine permanente Illusion, mehr als eine Irreführung der sexualisierten Geschöpfe, zu bezahlen zuvor und danach mit Seelenschmerz, ein billiger Zauber, der uns durch das Leben stolpern lässt; wohin?

Hier Teilgeständnisse eines Durchschnittsmannes, allzeit bereit, sich solcherart beschenken zu lassen; über Ereignisse von einem zufälligen Streifen zweier Lebenswege, glücklichen Augenblicken und krachenden Kollisionen; wie stets mit Koloraturen der Erinnerung und kleinen, verzeihlichen Lügen behaftet.

Auch mit Grübeln darüber, dass die Natur Sexualität und Liebe nicht erfand, um uns glücklich zu machen, sondern sie als Belohnung und Strafe einsetzt, damit wir unsere Spezies auch unter Enttäuschung, Kränkung und Schmerz fortpflanzen; müssen wir die Liebe gar fürchten? Christoph Willibald Gluck lässt seinen Orpheus singen: „Wär’, oh wär’ ich nie geboren“; kann verlorene Liebe, gleich aus welchem Grund, wirklich so zerstörend sein?

Das Wort „Glück der Liebe“ entspringt einer selektiven Wahrnehmung, die uns dabei hilft, Kollateralschäden zu überstehen, und die uns erlaubt, schuldlos egoistisch zu sein und derer, die unsere Träume füllen, nicht überdrüssig zu werden.

Das Sinnieren darüber kann niemals ein Ende finden.

Lisa und Dodscha

Als das lange erste Schuljahr vorüber war, kam noch ein Mädchen in meine Klasse; neben meiner Schwester, der stets fröhlichen Dodscha, der zarten Eugenie mit dem süßen kleinen Sprachfehler, der Magdalena mit der großen Gelenkigkeit, der schönen blonden Karin, der stolzen Rosemarie war noch eine Lisa hinzugekommen.

Sie war ein Kind gehobenen Standes, hatte eine schöne samtene Stimme, tief und geheimnisvoll, und war als besonders klug beleumdet. Sie bekam ihren Platz weit vorn, in der ersten Reihe der altmodischen Klapppulte am Fenster. Sie bekam diesen begehrten Platz wohl auch deshalb, weil ihr Vater der Zahnarzt des Dorfes war, also der Herr über den Schmerz.

Sie konnte viel erzählen, wovon andere Kinder wenig verstanden, schon deshalb war ich von ihrer Klugheit beeindruckt. Sie erzählte von ihrem Auto in einer Zeit, in der dieses Wunder selten gesehen wurde, von einem Sommerurlaub auf Norderney, wo sie schwimmen lernte, von Reisen an den Wochenenden, worüber sie eindrucksvoll berichten konnte.

Lisa entwickelte sich zum Star der Klasse, von den Jungen bewundert und, wie manche von ihnen zaghaft zugaben, geliebt. Es entspann sich ein Wettbewerb darum, wer sie am meisten liebte, erst sehr reserviert und dann immer offener, begannen wir, über Empfindungen für Lisa zu sprechen.

Keiner wollte zurückstehen, auch ich nicht.

Doch ich hatte das Hindernis, als Kleinster der Klasse ein anderes Image anzustreben; meine Leitfiguren waren die Helden des Wilden Westens, beschrieben in den Westromanen, ich wollte eigentlich ein unbezwingbarer Kämpfer sein, wie Billy Jenkins oder Tom Prox, die jeden Gangster zur Strecke brachten, ungeheuer flink mit den Colts waren und von Mädchen oder gar Küssen offenbar gar nichts wussten.

Nur einer dieser Helden auf ihren Mustangs, Jim Chester, der Jiu-Jitsu-Meister, hat einmal eine Juanita geküsst; es muss ein kurzer Schwächeanfall gewesen sein. Doch sonst dominierte eher Dick Hanson, der mit eiserner Faust alle Mestizen, Pockennarbigen und anderes Gesindel niederschlug.

Dieses von mir angestrebte Selbstbild würde leiden, käme heraus, dass ich die Lisa liebte. Was würden meine Mutter und die Großeltern sagen, käme diese Wahrheit ans Tageslicht?

Doch die Gefühlslage ließ sich nicht auf Dauer unter dem Deckel halten. Die Träume von Lisa waren zu schön, oft wachte ich auf und war von ihrer Wärme umhüllt, und ich versuchte, wieder in diesen Traum zurückzuschlüpfen.

Andere Klassenkameraden waren mutiger als ich, besonders der Reinhold; er schlich während des Unterrichts unbemerkt vom Lehrer zu Lisa und hielt ihre Hand. Auch Alwin und Nobbi prahlten offen, wie fest sie meine Lisa drücken würden und gar, wie viele Kinder sie nach der Hochzeit mit ihr haben wollten. Sie alle hatten im Alter von sieben oder acht schon Pläne und Vorstellungen für die ferne Zukunft.

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