Meine Mineralwassertheorie war übrigens bei Tisch immer ein beachtetes Thema. Später bekam ich hierfür zusätzliche Rückendeckung, nachdem ich auch in einem Gourmetmagazin ein noch viel differenzierteres Mineralwasser-Credo las.
Als meine Frau schwanger wurde und es war ja geplant, betrachtete ich die Begleitumstände der Schwangerschaft als Gott gegeben und stellte mich darauf ein. Ich stellte alle Aktivitäten außer Haus ein. Das betraf vor allem den Sport. Die neue Häuslichkeit war mir schon sehr passiv und spießig. Ich ertrug es, indem ich dem Vorbild einiger Kollegen folgte und die Gemütlichkeit beim Wein vor dem Fernseher suchte. Denn eins war mir klar. Sobald die Schwangerschaft, oder besser gesagt, die begleitenden Empfindlichkeiten meiner Frau vorbei wären, würde ich wieder frei sein mein Leben wie bisher zu führen. Bis dahin würde ich weiter Spannungen mit meiner Frau meiden und ihr alles recht machen. Vorwürfe gegen ihren vorübergehenden, emotionalen Wandel mochte ich nicht äußern, denn sie war es, die eine enorme hormonelle Umstellung ertrug, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Einem solchen Engagement verdanke ich auch mein Leben. Im Grunde genommen war ich ja froh, dass nicht Männer der Tortur einer Schwangerschaft ausgesetzt sind. Ich verhielt mich also weiter ruhig und so zuvorkommend wie möglich. Langsam fand ich Gefallen am Fernsehen mit einer Flasche Wein. Ich vergaß meinen Sport vorübergehend und trat in eine neue Welt ein. Der Wein machte mich auch immun gegen jede Laune meiner Frau. Ich schluckte jeden Angriff ohne das Bedürfnis zurückzugiften. So konnte ich mein Schicksal ertragen und gleichzeitig charmant sein.
Trotzdem musste ich für den Einstieg ins abendliche Trinken eine Hürde nehmen. Trinken passte nicht so recht zu meiner euphorischen Grundstimmung mit der ich durch einen Tag ging und meine Herausforderungen suchte. Statt Energie raus zulassen, ging es jetzt darum Energie zu zügeln. Ein Bedürfnis zum Trinken fehlte zur Unterstützung. Dem Bauchgefühl war das Vorhaben zu neu und ungewohnt. Die Entscheidung brauchte Überwindung. Die Situation ähnelte grundsätzlich dem Fallschirmspringen. Da blockierte mich ja auch eine innere Stimme, die im Adrenalinschub sehr dominant wurde, daran, aus dem Flugzeug zu springen. Kurz vor der Tat sind in beiden Fällen die Bedenken am größten. Der Kopf gibt das , weil der sich durchringt festzustellen, dass ja nichts passieren kann, weil die Sicherheit gecheckt ist. Die Entscheidung wird durch das Veto der Ratio gegenüber der diffusen Emotion gefällt.
Schon sehr bald ging meine Frau auch sehr früh zu Bett. Das unterstützte ich natürlich, wo sie doch in anderen Umständen war und öffnete in ihrer Abwesenheit eine zweite Flasche. Eine 0,7 l Flasche war eh zu wenig für einen ganzen Abend. Die zweite Flasche Wein hatte zudem den großen Vorteil, dass ich schnell müde wurde. Die Müdigkeit erlöste mich vom Fernsehen, so dass auch ich recht früh zu Bett ging und einen tiefen traumlosen Schlaf hatte. Morgens war ich ausgeschlafen. Wahrscheinlich hatte ich auch den Kater verschlafen. Spuren von dem vorhergegangenen Fernsehabend spürte ich jedenfalls nicht.
Als meiner Frau die vielen leeren Flaschen auffielen und sie zur Mäßigung mahnte, ersetzte ich ganz pragmatisch die zweite Flasche Wein abends durch einen Flachmann (0,2 l) mit Doppelkorn. Das war in reinen Alkohol umgerechnet sogar eine geringere Menge. Die Wirkung war trotzdem vergleichbar, weil man den Flachmann schneller trinkt. So flutet der Alkohol in einer größeren Welle an. Den Flachmann kaufte ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause an einer Tankstelle und deponierte ihn im Kofferraum zwischen den Firmenutensilien für Geschäftsverhandlungen. So wurde die Entscheidung nach der Flasche Wein weiterzutrinken eine aktive Entscheidung, die erforderte, dass ich abends nochmals rausging in die Garage. Das gefiel mir, weil so der Automatismus gebrochen war, aus dem Fernsehsessel heraus ohne nachzudenken nach der zweiten Flasche zu greifen. Ich neige nun mal zum Zweifeln. Meine Skepsis ist immer präsent. Sie ist immer in Alarmbereitschaft, weil ich meinen intuitiven Wahrnehmungen nicht traue. Das Rausgehen brach mit einer Gemütlichkeit, die mein Bewusstsein auf erhöhte Alarmbereitschaft stellen sollte. Ich musste dafür vorübergehend die Gemütlichkeit des Sessels aufgeben.
Mir gefiel diese Regelung. Regeln bedeuten Kontrolle und Kontrolle schafft Sicherheit. Ich hatte viele Regeln. Beim Einkaufen beispielsweise, hatte ich immer nur wenig Bargeld und nie Kartengeld dabei. So musste jeder Kaufwunsch überschlafen werden. Die Regel schützte mich zuverlässig vor unüberlegten Ausgaben. Viele solcher Erfahrungen hatten mich überzeugt, dass Regeln das Leben einfacher machen.
Als unsere Gynäkologin bei den Geburtsterminberechnungen immer kürzere Abstände nannte, wurde es Zeit für mich zu reagieren. Drei Wochen vor der berechneten Entbindung, entschied ich mich, auf den Flachmann zu verzichten. Zwei Wochen vor dem Geburtstermin trank ich gar nicht mehr. Das Rumsitzen im Wohnzimmer hielt ich kaum aus. Tatsächlich erdreistete ich mich zum Joggen rauszugehen und traf nicht auf den erwarteten Widerstand meiner Frau. Ich bekam sogar verständnisvolle Worte zu hören. Meine Frau fragte gar, ob ich unter ihrem Zustand leide. Ich habe das natürlich kategorisch verneint und bin so exzessiv joggen gegangen wie nie zuvor.
Zwei Tage nach der Geburt kam meine Schwiegermutter eingeflogen. Sie sollte für genau fünf Wochen bleiben. Mein Verhältnis zu ihr war belastet. Den Umgang mit ihr fand ich anstrengend. Wie viele Schwiegermütter war sie der Meinung, ihre Tochter hätte eine bessere Partie finden können. Sie hatte das doch richtig vorgemacht. Musste es als Ehepartner unbedingt eine Langnase (ein in Asien verbreiteter Begriff für weiße Ausländer) sein? Wenigstens in Zukunft sollte ihre Tochter und jetzt natürlich auch ich, denn ich gehörte nun mal zum Clan, besser auf sie hören. Ihr Missfallen ließ sie gerne jeden spüren.
Mit Schwiegerpapa wäre das noch eine andere Sache gewesen. Der war sehr jovial und hatte seine Tochter in ihrer Entscheidung mich zu heiraten unterstützt. Seine Stimme hatte zu Lebzeiten ein Gewicht, das jetzt fehlte. Mit der Ankunft von Schwiegermama war also meinerseits ein besonderer Verhaltenskodex gefordert. Immer höflich und zuvorkommend sollte ich bleiben.
„Das fällt euch im Westen besonders schwer“, meinte meine Frau: „Und immer Hilfe anbieten, auch wenn es unnötig erscheint.“
Ich sagte zu, kompromisslos jede Unterwürfigkeit zu zeigen und ihren Anordnungen nicht zu widersprechen. Letzteres war wichtig, denn sie sah sich nicht nur als Gast, sondern in erster Linie als Clanoberhaupt. Wenn ich Widerstand in mir zu brodeln spürte, so riet mir meine Frau vertrauensvoll, dann solle ich nur daran denken, dass das alles nur dem Wohle des Kindes diene. Konnte ich da widersprechen?
Ich tat also wie befohlen und verordnete mir am Ankunftstag von Schwiegermama eine Verlängerung meiner Trinkgewohnheit um etwa einen Monat. Stichtag war der Abflugtermin von Schwiegermama. Der Auslöser für diese Entscheidung war, dass ich das Ehebett für meine Schwiegermama räumen sollte. So konnten die Frauen sich besser um das Kind kümmern, wozu Väter nach Ansicht von Schwiegermama nicht taugten. Sowieso gab sie zu verstehen, dass meine Anwesenheit unnötig sei. Meine Abwesenheit gab ihr das gute Gefühl, dass ich meiner Arbeit nachging, und dazu seien Väter schließlich da. Ich trank jetzt keinen Wein mehr, sondern nur noch zwei Flachmänner. Das war diskreter. Ich parkte zudem das Auto nach Feierabend lautlos in der Garagenauffahrt, indem ich es mit Schwung im Leerlauf bei ausgeschaltetem Motor hochrollen ließ. Die Auffahrt war von keinem Fenster einsehbar. Das Küchenfenster zur Straße war mit einer automatischen Jalousie ausgestattet, die bereits runtergefahren war, wenn ich abends kam. Außerdem konnte ich von der anderen Seite kommen, dann passierte ich das Küchenfenster nicht. Das jemand rauskam war unwahrscheinlich. Den Hausmüll brachte nur ich zur Mülltonne. Sollte trotzdem jemand kommen, so war es einfach zu behaupten, dass ich erst gerade angekommen sei. So blieb meine Ankunft unbemerkt und ich konnte am Laptop noch eine Stunde weiterarbeiten, während ich den ersten Flachmann trank. In Asien galt es ja auch als ein gutes Zeichen, wenn die Männer spät von der Arbeit kamen. Interessanterweise hatte der Alkoholeinfluss eine positive Wirkung auf meine administrativen Arbeiten, die ich sonst gerne vor mir herschob. Besonders Gesprächsprotokolle und Reisekostenabrechnungen waren mir sonst ein Graus. Ich hatte also kein Problem nochmal eine Stunde im Auto zu verbringen, um einfache Arbeiten zu erledigen. So schien es auch gut zu sein, denn ich hatte den Eindruck, ich wurde gar nicht vermisst. Mein Sohn war der Alleinunterhalter. Den Erwachsenen blieb die Rolle der Statisten. Noch immer ging man früh zu Bett, was für mich der Anlass zum Gang zum Kofferraum wurde, wo ein zweiter Flachmann lag. Manchmal genehmigte ich mir bei der Gelegenheit auch noch einen weiteren Flachmann. Den durfte ich aber nur zur Hälfte trinken. So konnte ich mir beweisen, das kein Zwang vorlag zum weitertrinken. So war weiterhin alles im grünen Bereich. Und das Ende war eh so nah. Ist die Schwiegermutter erst mal weg, würde sich alles ganz schnell normalisieren. Ich vermisste meine gute alte Zeit schon sehr. Diesmal würde es noch besser kommen. Dann würden wir endlich Familie sein.
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