Die nächsten Tage sah er sie vermutlich nicht, wenn sie den Fuß schonte. Bestimmt war sie ein Sturkopf, aber hoffentlich nicht unvernünftig. Er wusste schon jetzt, dass er ihren Anblick am Morgen vermisste. "He! Verflixt noch mal! Was ist das denn?"
Es war besser so. Was fiel ihm nur ein? Es war besser, dass sie dem Strand fern blieb und er nicht in Versuchung geriet, sie zu beobachten, ihr zu begegnen, mit ihr zu reden, sie zu …
"Oh Mist! Die Gedanken gehen mit mir durch."
Warum ging sie ihm nicht mehr aus seinem Schädel? Nicht gut. Nein, nicht gut. Alexandre Laurent Marc stand in seinem Ausweis. Drei Namen. Er hatte den zweiten gewählt. Den dritten mochte er gar nicht, den ersten nicht sehr. Aus welchem Grund war ihm natürlich nicht klar, spielte auch keine Rolle. Es war so. Er entschied so. Er war Laurent Merlin. Ein Nachname wie der große Zauberer, aber französisch ausgesprochen, nicht englisch. Bloß nicht. Er hielt inne. Woher stammte er, der diesen Namen trug?
Laurent beendete seine Küchenarbeiten, hatte auch die Tasse gleich abgewaschen, alles weg geräumt und legte sich wieder hin. Es war noch nicht Tag geworden. Er deckte sich zu, schloss die Augen und versuchte, noch eine Runde ruhigen Schlaf zu finden. Er sah sie dabei vor sich, ob er wollte oder nicht und schlief sogar lächelnd ein.
*****
"Ja? Bitte."
"Katie, bist du es?"
Beinahe hätte sie das Telefon fallen lassen, als sie ganz unverkennbar seine Stimme hörte.
"Ist der Fuß soweit okay?" fragte er nach ihrer Bestätigung. Auch durch die Leitung verursachte diese Stimme die gleiche Unruhe in ihr, wie es am Strand gewesen war. Eine schöne Stimme. Hatte Susanne doch Recht? War es das, was mit ihr geschah? Sie nahm sich zusammen, um ihm mit einer normalen Stimme antworten zu können.
"Ja. Nur ein paar Tage ruhiger angehen."
"Gut. Ich wollte nicht, dass du dich verletzt."
"Du warst ganz schön unverschämt. Hättest du mich nicht so überrascht, hättest du dir etwas einhandeln können."
"Was?"
"Mindestens eine kräftige Ohrfeige."
Er lachte. "Darum habe ich dich überrascht. Ich dachte mir, dass ich sonst meine Zähne zählen kann. Aber … du hast mich provoziert."
"Also gleich Zähne zählen hättest du nicht müssen. Aber ein rotes Gesicht hättest du abbekommen. Es berechtigt dich nicht dazu, das zu tun, wenn ich dich provoziere."
Wieder lachte er. "Stimmt. Oh, ob mir rot steht, weiß ich nicht. Soll ich es darauf ankommen lassen und sehen, wie das ist? Aber …"
Wie locker er sein konnte. Das war schön. Es musste schön sein, mit ihm ein bisschen herum zu streiten.
"Okay. Lass es gut sein. Ich bin nicht sauer."
"Du warst es."
"Ja, ich war es. Und wie! Bisher haben mich wenige so wütend gemacht wie du es tust."
Sie nahm ihren Mut zusammen. "Warum sprichst du mit mir? Du tust es mit niemandem. Warum mit mir?"
Ihr fiel zwar ein, dass er auch mit dem Arzt gesprochen hatte, aber das galt nicht wirklich. Es blieb still. Sie hatte sogar damit gerechnet, dass er aufhängte, aber er blieb dran. Er war noch da. Sie stellte fest: "Du willst mir nicht antworten?"
"Stimmt. Kluges Kind."
"Warum?"
"Ich weiß keine Antwort darauf."
"Auch das ist eine. Danke. Okay, das kenne ich."
"Dass du keine Antwort weißt? Das kann ich mir nicht vorstellen."
"Doch. Eigentlich oft sogar."
"Bisher hast du immer eine gefunden."
"Wir haben noch nicht viel geredet. Vergessen? Sagst du mir, wie du heißt? Meinen Namen kennst du. Aber ich weiß nicht, wie ich dich ansprechen soll."
Eine Weile blieb er wieder still. Kam darauf nichts? "Laurent", hörte sie. "Ich heiße Laurent", und ein Klicken machte ihr klar, dass er aufgehängt hatte. Das war nun wieder plötzlich gewesen.
Er klang noch nach in ihr. Sie legte das Telefon langsam hin, auf seinen Platz und schüttelte den Kopf. Vielleicht war er schüchtern? Nein, den Gedanken verwarf sie gleich wieder. So wirkte er nicht. Dagegen sprach sein Verhalten am Strand und auch einiges aus dem kurzen Gespräch.
"Laurent also. Freut mich."
Laurent. Klang gut. Es passte zu ihm. Er hatte sich erkundigt, wie es ihr ging. Er hatte sie tatsächlich angerufen. Wie er ihren Namen ausgesprochen hatte. So zärtlich! Ach was! Sie hörte wohl schon die Flöhe husten. Zärtlich? So ein Unsinn. Laurent. Gut. Er löste in ihr ein Gefühl der Leichtigkeit aus. Ahnte er das? Wohl kaum. Mit ein paar wenigen Worten nur erreichte er es. Nein, es geschah schon beim Gedanken an ihn. Was hatte Susanne gesagt? Katie lachte.
Sie tanzte durch den Raum, in Gedanken nur. Leider nur so. Leichtigkeit. Die Leichtigkeit des Seins. Nein. Einfach Leichtigkeit. Etwas wie über allem Schweben. Und Wärme, die sich in ihr ausbreitete, wenn sie an ihn dachte. Es war verrückt. Gab es das denn noch für sie? Laurent, Laurent, Laurent … es sang in ihr. Es tat ihr gut. Es war wie Balsam, der Wunden im Inneren verschloss. Auch wenn sie mit nichts rechnete. Sie empfand das. Es floss in sie wie ein Kraftstrom.
Sie stellte die Musik laut, wippte dazu, da sie mit dem Fuß nicht tanzen konnte, jauchzte, sang bekannte Melodien mit und spürte das alles in ihrem ganzen Körper. Sie liebte, liebte alle und alles um sie her. Was für eine Empfindung! Was für ein Feuer!
Schließlich wurde sie ganz ruhig. Sie hatte den Eindruck, mit allem, was kam, fertig zu werden. Kraft war in ihr, Vertrauen, aber als Gegenpol auch Verwundbarkeit. Der Preis dafür, dass sie sich ganz öffnete und alles einließ.
Es war als brenne ein Ofen in ihr, der in alle Winkel Wohlgefühl trug, alles damit ausfüllte. Ihre Sinne waren wach.
Sie hörte jeden Vogel singen, nahm ihre Lieder überdeutlich wahr. Sie hörte die Grillen zirpen, die Frösche quaken, die Ameisen rennen, ja. So kam es ihr vor.
Sie roch die Blumen und die Kräuter, das Meer, den Wind. Sie sah die kleinsten Schönheiten und liebte das Leben.
Doch war das nicht trügerisch? War denn etwas an ihren Gefühlen trügerisch. Nein, das war es nicht. Es spielte dabei doch keine Rolle, wie er reagierte oder empfand. Es waren nicht seine, es waren ihre eigenen Gefühle. Anstatt viele unnütze Fragen zu stellen. Genießen. Der Moment spielte eine Rolle, nicht das, was vielleicht war oder nicht war. Der Augenblick konnte Glück sein. Ein nächster war vielleicht Unglück. Aber das Jetzt war wichtig.
Sie sog den Moment in sich ein und nicht eine Zukunft. Das Jetzt. Ja. Und jetzt war da die Leichtigkeit. Sie lachte, liebte, lebte und hätte zerspringen können. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Sie hatte nicht geahnt, dass es wiederkam. Mit Laurent war es aber geschehen.
5. Kapitel (Schmetterling)
Gefühlswelten waren oft seltsam. Manches verpasste man wegen aller Wenn's und Aber, wegen dem Abwägen und den Bedenken. Leben mit allen Vor- und Nachteilen. Es musste nichts verfliegen ohne Beachtung und Spuren.
Katie joggte nicht. Sie sah ein, dass es vernünftiger war, damit zu warten, es erst in ein paar Tagen wieder aufzunehmen. Aber zwei Tage später fuhr sie dennoch zum Strand hinaus. Sie konnte doch wenigstens spazieren gehen.
Egal, wenn der Morgen nicht sehr einladend war, sondern neblig grau daher kam. Der südliche Wind schickte Schwaden davon vom Meer her aufs Land. Es sah gespenstisch aus, aber auf seine Art schön; auch das je nach Betrachtungsweise. Bedrückend erschien es ihr nicht. Vielleicht konnte dieser Morgen melancholisch stimmen. Sie faszinierte der Anblick, der sich ihr bot.
Sie hatte die beiden vergangenen Tage in einer verblüffenden Hochstimmung erlebt, fühlte in sich Weichheit und Zärtlichkeit. Das verwirrte sie auf der anderen Seite. Es brachte sie aus der Ruhe, und sie hatte es kaum erwarten können, an den Strand zu fahren. Es war nicht nur des Strandes wegen. Sie hoffte, ihn zu sehen. Als sie zum Meer blicken konnte und etwas mehr erkannte, sah sie am Ufer eine Gestalt im Sand sitzen. War er es? Es musste so ein, so wie sie reagierte. Sie ging näher, lachte sich selbst aus. Sollte sie zu ihm gehen oder besser nicht? Vielleicht wollte er es nicht. Sie ging langsamer, aber sie konnte nun erkennen, dass er es tatsächlich war. Sie zögerte und ärgerte sich darüber. Was war sie denn so ängstlich?
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