Sie entschloss sich hin zu gehen. Er sah auf, als sie neben ihm stehen blieb, und sie setzte sich einfach neben ihn. Er floh immerhin nicht gleich, das war ein kleiner Fortschritt, auch wenn er nicht einladend wirkte. "Magst du das Meer Laurent?"
"Ja."
"Heute ist es wie du."
Er sah sie an, abwartend, fragend.
"Ja wie du. Schau hinaus. Du kannst wenig erkennen. Es verrät dir nichts, lässt dich nicht viel sehen und ist doch wunderschön. Es ist geheimnisvoll. Was birgt es? Geschichten vielleicht, Klagen und Freuden. Es seufzt und lacht dich aus. Es erfreut und bedroht dich. Es ist wirklich voller Geheimnisse. Gerade heute im Nebel."
"Und wie ich?"
"Ja wie du."
"So siehst du mich?"
"Ja."
Er blieb eine Weile still, sah mit ihr hinaus. Doch schließlich fragte er: "Hast du nie Angst?"
Sie lauschte dem Klang seiner Stimme und erschauerte, überlegte sich, worauf er hinaus wollte.
"Doch. Sogar oft. Es macht aber nichts, Angst zu haben. Es gehört zu den Menschen. Wichtig ist es, Wege zu finden, sie zu überwinden oder mit ihr zu leben."
"Du lieferst jede Menge Rätsel, Katie, und sehr interessante Aspekte."
"Rätsel? Ich?"
"Du ja. Wusstest du das nicht? In jedem stecken solche, aber in dir viele. Lohnt es sich, sie zu lösen? Ich könnte es mir vorstellen. Aber ich werde es nicht tun."
"Warum?"
"Es ist schöner, wenn es Rätsel bleiben."
Er schaute wieder aufs Meer hinaus, wo nur leicht etwas zu erkennen war, dort wo Lücken in den Nebel gerissen wurden, dort wo es Fenster in den Himmel oder in die Welt gab. Oder Fenster zu den Geheimnissen. Es war gut, dass nicht alle enträtselt wurden und ihren Reiz dadurch verloren. Forschen war gut. Aber es war auch gut, manchmal nicht bis ans Ende oder an den Anfang des Ganzen zu gelangen. Ausgewogenheit. Ein Wort, das auf Vieles passte. Gleichgewicht. Ihr Herz klopfte laut, schien ihr, schneller als sonst. Leben durchströmte sie. Wieder seine Stimme.
"Warum hast du keine Angst vor mir?"
"Müsste ich?"
"Sag du es mir."
"Manchmal auch vor dir. Dann wieder nicht. Es ist nicht immer gleich. Aber ich muss sie nicht haben. Nein."
"Sei vorsichtiger. Das ist ein Rat von mir."
Er stand auf, putzte den Sand weg und machte Anstalten zu gehen. Sie versuchte es zu verhindern, wollte ihn noch nicht weg lassen. "Bitte geh noch nicht." Er wollte nicht, dass sie ihn zurück hielt, sah leicht ärgerlich aus. "Leg nicht Dinge in etwas, die da nicht sind und die nie sein können. Es ist besser für dich. Vergiss alles. Vergiss es. Vor allem vergiss mich gleich wieder."
Laurent ließ sich nicht aufhalten. Der letzte Satz war so kalt von ihm gekommen, dass sie fröstelte. Sie sah ihm nach. Die nächste Nebelschwade verschluckte ihn und sie wurde traurig. Das Hochgefühl der letzten Tage war wie weg geblasen. Warum war die Leichtigkeit aufgetaucht, wenn alles nur Rauch war? Warum hatte sie gedacht, es könnte vielleicht mehr sein? Das Interesse war einseitig und blieb so. Sie war kein verträumter Teenager mehr. Er löste Gefühlschaos in ihr aus, so wie manchmal in diesem Land chaotische Winde wehten. Die Traurigkeit hatte sie wieder. Jetzt erst recht. Alles ging von ihm aus. Was sollte das? Warum ließ sie es zu? Traurigkeit nun durch diese Kälte. Es fror sie. Was hatte sie denn erwartet und warum um Himmels willen sollte da etwas sein? Sie konnte es nicht verhindern. Tränen stiegen empor, aus den Tiefen, verschleierten ihren Blick.
"Roby, sag du es mir. Darf ich nicht wieder lieben? Soll das für immer verloren bleiben? Ich bin schon so lange allein. Ich werde dich nie vergessen. Unsere Liebe ist etwas Besonderes. Aber ich sehne mich so sehr nach Armen, nach Geborgenheit. Es tut weh. Es tut so sehr weh. Ich möchte es wiederhaben. Die Gefühle dieser Tage waren schön. Warum ist es weg?"
Natürlich konnte sie gut auf eigenen Beinen stehen. Manchmal staunte sie selbst, wie gut sie das Leben danach gemeistert hatte, wie gut sie damit zurecht kam und mit dem Verlust umging. Denn sie hatte damals gedacht, sie müsste mit ihm sterben. Sie hatte nicht ohne ihn bleiben wollen. Die Trauer war jedoch leiser geworden, ihre Erinnerungen lebten, ließen sie oft lächeln, ließen sie sogar lachen. Sie war stark geworden. So wie es ihr Vater nie gedacht hätte, wie es René ganz bestimmt nie vermutet hatte, so wie es ihr Jocelyne nie zugetraut hatte. Oder war sie es eigentlich immer gewesen, wie es Maria von ihr gedacht hatte? Wie es Roby gesagt hatte. Maria, Roby's Mutter, war zu ihrer Freundin geworden. Sie hatten an sie geglaubt. Die Menschen hier glaubten an sie. Sie stand aufrecht. Aber ganz innen sehnte sie sich.
Meist war es in der Arbeit vergraben, blieb es still. Doch manchmal stieß es an die Oberfläche, oft überraschend, brach aus ihr heraus und konnte sehr heftig sein. Die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nach Partnerschaft, nach Armen, nach Vertrautheit selbst im Schweigen, nach Verstehen ohne viele Worte, nach Gesten, tiefem Vertrauen, nach Geplänkel und Zärtlichkeit, nach kleinen Streitereien und Versöhnung, nach Liebe. Doch vermutlich blieben ihr nur Erinnerungen und Träume, so jung sie auch war. Sie weinte leise, ließ es zu, allein mit dem Meer. Sie sah das Meer nicht mehr, nicht die Möwen, deren Stimmen sie wie Hintergrundmusik hörte. Sie spürte zwar den leichten Wind, der versuchte, ihre Tränen zu trocknen. Laurent hatte etwas in ihr geweckt, das es nicht gab, etwas geweckt, das nicht sein konnte und nicht sein durfte. Warum gerade Laurent? Warum niemand von denen, die ihr bisher gezeigt hatten, dass sie ihr Liebe geben wollten? Nein, dieser seltsame fremde Mann, dieses unlösbare Rätsel. Sie war keines, wie er es angedeutet hatte. Er schon.
Sie kannte ihn nicht, wusste nichts von ihm. War es die Ähnlichkeit der Begegnungen? Wenn es das war, tat sie dem einen und dem anderen Unrecht damit. Eine Wiederholung und doch keine. Nein. Oder gebar ihre Sehnsucht etwas, das nicht existierte, dass kein zweites Mal, auch nicht ähnlich, geschehen konnte? Illusionen. Legte sie hinein, wo nichts war, wie er es gesagt hatte? Bei ihr war es. Bei ihr war es da. Bei ihm wohl nicht. Der Schmerz in ihr nahm zu, weitete sich aus. Sie fühlte Verlassenheit. Auch wenn sie ihr Leben weiterhin bewältigen würde, jetzt fühlte sie Verlassenheit. Es schüttelte sie, sie zitterte, und sie konnte es nicht mehr anhalten. Je mehr sie es versuchte, desto stärker wurde es. Also ließ sie es zu. Jetzt. Allein hier am Strand.
Da legten sich auf einmal sanft Arme um sie, warm und stark und vorsichtig. Sie zuckte nicht einmal zusammen, wehrte sich nicht. Sie wusste, dass er es war. Sie roch seine herbe Mischung, seine Haut, sie wurde gehalten. Katie legte ihren schmerzenden verwirrten Kopf an seine Brust und ließ alles das erste Mal ungehemmt heraus strömen. Sie hatte sich doch immer mehr oder weniger zusammen genommen, nun ließ sie los. Ungewöhnlich vertrauensvoll in seinen Armen. Sie durfte sich wieder einmal anlehnen und sich beschützt fühlen. Das empfand sie in diesem Moment bei Laurent. Sie schloss die brennenden Augen und beruhigte sich langsam. Er saß hinter ihr und hielt sie so umfangen, schwieg, bis sie ruhiger geworden war. Erst dann fragte er: "Habe ich dir weh getan?"
"Nein, nicht wirklich du. Nicht nur du." Sie sah kurz in sein Gesicht mit der unvermeidlichen Sonnenbrille. Diese hielt sie immer noch auf eine gewisse Distanz. Sie sah gerne in Augen, suchte gerne in den Fenstern der Menschen nach ihnen. Das hatte sich nicht geändert. Sie wollte ihn jedoch nicht bedrängen mit ihren Wünschen und ihn damit vertreiben und mit ihm diesen zärtlich vertraulichen Augenblick. Sie wusste jedoch, dass dieser auch so bald zu Ende ging.
"Was macht dich so traurig?"
"Sehnsucht. Verlassenheit."
Sie schloss die Augen wieder, lehnte sich an ihn. Nur noch eine Weile. Sie versuchte, das Gefühl festzuhalten, nur noch eine kleine Zeit. Sie genoss das Jetzt mit all ihren Sinnen. "Bleib noch. Bitte bleib Moment, bleib so. Bleib Zärtlichkeit. Bleib Wärme. Bleib noch." In ihr war Vertrauen. Sie schmiegte sich leicht an ihn.
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