Er war stehen geblieben, hob etwas auf, warf es mit einem kraftvollen Schwung ins Meer hinaus, sah in den Himmel, ließ sich auf einmal einfach in den Sand fallen und rollte herum wie ein Junge. Er wirkte erstaunlich verspielt, ganz anders, als er sonst herüber kam. Das war eine neue Seite an ihm, nicht geheimnisvoll und dunkel für einmal, sondern neckisch. Und wenn alles davon Masche war, um sich interessant zu machen? Nein, auch so wirkte er nicht auf sie. Schließlich saß er da, verweilte still und sah hinaus. Vielleicht sah er den kleinen Wellen zu oder den Möwen oder den Schiffen am Horizont. Es gab immer viel zu sehen. Für manche. War er einer von denen, die sahen? Es gäbe an ihm viel zu entdecken. Davon war sie inzwischen überzeugt. Es war spannend und konnte das Leben sehr bereichern, wenn nicht alles immer von vornherein sonnenklar war. Nun gut, wohin ihre Gedanken wieder flogen. Viel zu weit.
Sie entschloss sich, ihren Dünenplatz zu verlassen, nach vorne zu gehen. Was für ein Herumgetrödel heute. Sie lachte leise in sich hinein. Liederlich war sie. So eine Schande. Einmal nahm sie sich das heraus. Ihr war danach. Und sie konnte es sich durchaus erlauben. Sie wollte die Füße ins Wasser tauchen, die Wellen, die Strömungen und den unter den Fußsohlen weichenden Sand spüren. Sie zog die Schuhe aus, nahm sie in die Hände und setzte es in die Tat um.
Natürlich wollte es der Zufall – oder waren es nicht vielmehr Katies Beine? -, dass sie an ihm vorbei marschierte. Nein, erst hatte sie das vor, blieb nun aber vor ihm stehen, weil sie etwas ritt, was immer das sein mochte. Sie drehte sich ihm zu, lächelte besonders freundlich und sagte wieder einmal einen Standardsatz, der oft in ähnlichen Situationen gesprochen wurde. Zugegeben, nicht sehr einfallsreich, aber auch nicht unwahr. Es hätte der Anfang zu einem Gespräch darstellen können, wenn er nur eine Spur an Höflichkeit in sich trug. Obwohl – was war denn nun wieder Höflichkeit? Oft nicht mehr als Schein, oder nicht? Sie war heute viel zu tiefgründig.
"Guten Morgen. Es ist heute richtig schön am Strand, nicht wahr?"
Unfassbar. Er reagierte. Er sah zu ihr auf. Aber das war das einzige Konventionelle. Er sah einfach nur auf. Denn nein, der Mund öffnete sich nicht, um Worte oder sogar Sätze herauszulassen. Das geschah nicht, aber er reagierte erstmalig. Das war doch schon ein Fortschritt. Es kam noch besser.
Sein Mund verzog sich etwas, die Mundwinkel zeigten ganz leicht nach oben, die sinnlichen Lippen lösten sich ein wenig voneinander und pressten sich nicht mehr stur zusammen. Sie beobachtete es fasziniert. In seinen Augenwinkeln, vom äußeren Rand der Sonnenbrillengläser ausgehend, entwickelten sich wie Strahlen kleine Fältchen. Und sie konnte nicht anders, fühlte sich durch seine Art dazu provoziert, sie sah ihm direkt ins Gesicht. Er sah sie auch an, das spürte sie, man sah es, aber es kam nach wie vor kein Ton von ihm. Gar nichts. Nicht einmal eine Art Brummen, das manche von sich gaben. Nichts. Er saß nur da. Weil er sie mit diesem seinem Schweigen und seinem vermeintlich spöttischen Grinsen – nach den paar sichtbaren Zeichen urteilend – ärgerte, betrachtete sie ihn ausführlich. Langsam und deutlich. Er hatte dichtes Haar, schwarz, wie erwähnt, nicht ganz glatt. Er trug es halblang. Ab und zu gab es darin ein einzelnes graues Haar zu entdecken. Vermutlich schätzte sie sein Alter nicht schlecht ein, gab ihrem noch ein paar Jahre hinzu. Er war wohl doch etwas älter als sie. So kam es bestimmt hin. Seine Schultern und die Arme wirkten kräftig, der Rücken ebenfalls. Die ganze Gestalt war in keiner Weise schwerfällig, sondern geschmeidig und durchtrainiert. Das was sie von seinem Gesicht sehen konnte, wirkte ebenmäßig. Die Haut war leicht gebräunt und schien glatt, außer einer kleinen Narbe oben an der Stirne.
Die Strahlenfältchen erloschen, der Mund wurde auf gewohnte Weise schmal. Das zeigte ihr, dass ihm ihre Betrachtung nicht gefiel.
Das zeigte sich deutlicher, als er aufstand und, weil er ein gutes Stück grösser als sie war, auf sie herab sah. Sie spürte, dass nun er sie musterte. Sehen konnte sie es nicht. Und ein Wort von ihm kam noch immer nicht. Stur war der. Aber zwischen ihren Schulterblättern meldete sich ein Frösteln, das sich allmählich über ihren ganzen Körper ausbreitete.
Es war nicht angenehm. Erst war es schwer zu deuten und nach und nach fühlte sie etwas wie Bedrohung. Hatte sie sich zu weit vorgewagt? Sie spürte, dass er kein harmloses Männchen war. Und er war nicht wie sonst. Ein beträchtlicher Schwall Aggressivität kam von ihm auf sie zu. Was hatte sie sich nur gedacht, vor allem, weil sie sonst nicht so war? Plötzlich, bevor sie zurückweichen oder sonst etwas tun konnte, packte er sie, umschlang sie mit seinen tatsächlich starken Armen. Sie war verloren darin und sie war vor allem überrascht von der Aktion. Sie hatte keinen Bewegungsspielraum mehr. Er wusste vermutlich genau, warum er ihr keinen ließ. Er legte seinen Mund auf ihren, bevor sie wusste, wie ihr geschah und küsste sie mit einer groben und wilden Leidenschaft, bis ihre Knie weich wurden und sie ganz schlaff in seinen Armen, durch ihn an ihn gepresst, hing. Sie stand tatsächlich nicht mehr fest auf ihren Füssen. Es war alles zu schnell gegangen, um sich effektiv wehren zu können.
Doch genauso plötzlich, wie er sie gepackt hatte, ließ er sie los. Wieder überrascht davon fiel sie hin. Ihr Fuß knickte dabei ab. Sie saß noch immer erstaunt im Sand und sah ihn, mit schnell klopfenden Herzen, wie er mit langen Schritten davon ging. Federnd und leichtfüßig, schnell weg von ihr und doch sah er irgendwie beschwingt fröhlich aus. Der Wind trug ihr außerdem etwas zu, dass sie noch mehr in Erstaunen versetzte. Ein Lachen, das von ihm kam. Ein Fetzen Stimme. Er besaß Stimme. Ein kurzes Auflachen.
Katie wusste nicht recht, ob sie wütend sein sollte oder nicht. Das war eigentlich ein Überfall gewesen. In gewisser Weise hatte sie ihn herausgefordert, aber doch nur, um endlich einmal eine Antwort in Form von gesprochenen Worten zu erhalten, ganz bestimmt nicht das. Unverschämtheit. Es war, verflixt noch mal, äußerst unhöflich, nicht zu grüßen, wenn man selbst gegrüßt wurde. Ein Mindestmaß an Anstand stellte das dar. Aber davon schien der wirklich nichts zu halten. Stattdessen fiel er so über sie her. Unerhört.
War der eigentlich vollkommen verrückt geworden! Was fiel dem Kerl ein! War er vielleicht sogar gefährlich? Hatte er eine Macke oder war er gewalttätig? Das hätte ins Auge gehen können. Sie musste unbedingt wieder vorsichtiger werden. War er am Ende ein Psychopath? Vielleicht sah sie sich besser vor. Oder … war es anders? War er ein schöner Mann, der dachte, alle Frauen wollen nur das eine und war das für ihn schon so langweilig, dass es ihn maßlos anödete? Oder dachte er, er könne sich herausnehmen, was immer er wollte, ohne Folgen? Sie hatte Bedrohung gespürt, nicht Anziehungskraft. Oder? So was aber auch.
Erst als sie aufstehen wollte, merkte sie, dass sie sich wehgetan hatte. Mit dem Fuß stimmte etwas nicht. So ein Mist! Es schmerzte beim Auftreten. Das konnte sie nicht brauchen. Sie humpelte und ärgerte sich. Schlimm war es bestimmt nicht, aber bis zu ihrem Auto hatte sie ein gutes Stück zu gehen. Vielleicht ging es mit den Schuhen besser. Die festigten. Sie biss die Zähne zusammen. Das kam davon. Wie ärgerlich. Oder doch besser ohne Schuhe? Bevor sie hineinschlüpfte, ging sie ein paar Schritte, setzte sich aber gleich wieder hin. Sie befreite ihre Füße so gut es ging vom Sand, massierte den schmerzenden Fuß leicht, zog die Schuhe an und merkte, dass es so auch nicht gut ging oder sogar eher noch mehr schmerzte. Sie seufzte. Das war toll. Dieser … sie dachte an sein Lachen. Das hatte sie deutlich gehört und sich nicht nur eingebildet. Ein seltsamer Kerl, in der Tat. Sie schloss einen Moment die Augen, spürte den Schmerz pulsieren, aber sie hatte bei der kleinen Untersuchung feststellen können, dass nichts gebrochen war. Na ja, das ging meist doch nicht so schnell, wenn mit den Knochen und Gelenken alles in Ordnung war. Sie hatte keine so genannten Glasknochen. Ja, Stimme hatte er also. Nichts mit stumm. Das immerhin wusste sie nun. Aber das hier konnte sie nicht brauchen. Oh, so ein Ärger! "Mist aber auch! Mist! Mist!"
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