"Vielleicht."
"Ausweichmanöver? Verstehe. Sieht er nicht gut aus?"
"Susanne! Hast du ihn denn noch nie gesehen? Dann bist du weit herum die einzige."
"Darum geht es nicht. Ich frage dich, was du denkst."
"Doch. Ja doch, auf seine Art. Ja. Er sieht sogar sehr gut aus. Aber was bringt das, wenn er sonst ein Idiot ist?"
"Ist der das?"
"Weiß ich doch nicht. Sieht eigentlich nicht danach aus. Aber …"
"Aha."
"Und?"
"Begegnest du ihm nicht erstaunlich oft?"
"Doch. Aber ich suche es nicht. Zufall, sonst nichts."
"Aha."
"Aha, aha, aha … was soll das werden? Kleiner Wortschatz heute?"
"Nein. Analyse der Situation. Siehst du. Ich sehe es. Du weißt es. Wenn ich dich betrachte, sehe ich, was mit dir geschieht, wenn du von ihm erzählst."
Katie produzierte in der Zwischenzeit Zornesfalten. "Ach nee! Was denn?"
"Spiel mir nicht die Unschuld vom Lande vor."
"Ich bin im Lande."
"Das sind reine Feststellungen. Schlüsse daraus kannst du selbst ziehen. Ich sehe dein offensichtliches Interesse."
Sie stand ärgerlich auf. Auch wenn sie wusste, dass Susanne in allem, was sie vorbrachte, nicht Unrecht hatte, ärgerte es sie. Katie wollte diese Schlüsse nicht ziehen. "Ich habe zu tun."
"Wo?"
Susanne lachte sie aus.
"Du stellst Fragen? Dort. Und du auch. Da will jemand etwas trinken. Kümmere dich ums Geschäft, anstatt mich zu analysieren."
Sie ging an ihre vielfältigen Tagesaufgaben, wollte nicht mehr über das Thema nachdenken. Sie hörte Susannes Lachen. Ihr konnte man nichts vormachen. Ganz falsch war das alles nicht. Unmöglich war es trotzdem. Und weiter verfolgen wollte sie das erst recht nicht.
Hatte Katie ein Faible für schwer durchschaubare Menschen? Für Geheimnisse? Möglich. Sie hatte sich das mehrmals gefragt. Oder eines für Schwierige, um die viele andere weite Bogen schlugen? Zog sie solche Männer an? Männer. Sie sprach in Mehrzahl. Es war aber keine Mehrzahl vorhanden. Seit Roby hatte es niemanden mehr gegeben. Nicht etwa, weil sich keiner interessiert gezeigt hatte, aber keiner hatte sie im Geringsten berührt. Es waren Kollegen geblieben, gute Bekannte, vielleicht Freunde, mehr nicht. Vielleicht hatte sie sich dafür bisher keine Zeit gelassen, weil die Zeit mit anderem mehr als ausgefüllt gewesen war. Sie hatte sich ihren Plänen gewidmet, diese nach und nach umgesetzt und hatte seitdem genug zu tun damit. Ein Mann in ihrem Leben, eine neue Partnerschaft? Einerseits ja, auch mit der Zeit eine Familie, andererseits, wie ging das nach Roby? Da musste schon jemand Besonderes kommen, der sie sozusagen im Sturm eroberte. Natürlich war jeder Mensch einmalig, aber nicht jeder passte zu ihr und nicht jedem gelang es, bis in ihr Herz vorzudringen. Dabei baute sie nicht einmal Mauern um sich.
Ihr Leben hatte sich gut eingespielt: In der Saison gehörte der Morgen meist der Pferdevermietung, der Nachmittag und Abend der Mas mit den Gästezimmern und allen Belangen darum, dem Administrativen und dem Unvorhergesehenem. Das konnte sich bis in den Abend hinein ziehen oder tat es meist. Eine gewisse Struktur lag darin, nicht stur, aber praktisch. Es war gut, geregelte Abläufe zu haben. Situationen verlangten allerdings oft Änderungen der Pläne. Auf diese Weise blieb es spannend. Es kam nie Langeweile auf. Sie war etwas stolz auf das, was sie bisher erreicht hatte. Auch im Winter gab es bei ihr die Möglichkeit, Zimmer zu buchen. Es gab immer mal Reisende, die das nutzten.
Das klang alles beschaulich und friedlich, aber eigentlich war ihr Leben bisher nie lange ruhig gelaufen. "Auf die nächsten Jahre!" Bilder von Rob tauchten auf, Erinnerungen an ihre kurze und schöne gemeinsame Zeit. Es hatte nicht für ein Kind gereicht. Vielleicht besser, obwohl sie es sich gewünscht hatte. Eine Familie. Aber eine Familie ohne Vater? Sie dachte an Roby, an sein Lächeln, seine Heftigkeit, seine Liebenswürdigkeit, seine Liebe. Er fehlte ihr noch immer, auch wenn der Schmerz nicht mehr so tödlich wie damals war. Und was war seitdem nicht alles gewesen. Neue Wege, Kämpfe, wachsende Standhaftigkeit darin, Verwaltung seines Musiknachlasses. Freuden und Nöte in diesem noch immer wilden Land. Veränderungen, einige gut, andere mühsam. Ihr Auseinandersetzen mit allem. Wasser, Feuer, Wind, Nachlässigkeiten, Gefahren … Wenn sie es sich überlegte, war in der Zeit viel geschehen. Sie hatte das meiste ohne nennenswerte Schäden überstanden, stand um einiges fester im Leben als damals.
Sie genoss abends, wenn es nichts zu tun gab, ihre kleine Wohnung in der Mas. Nach und nach hatte sie eingerichtet, ausgebaut, ausgebessert und gestaltet und war damit noch nicht fertig. Der Kern davon stimmte. Ihr Wohnzimmer, die Küche, das Bad. Küche und Bad waren auf dem neusten Stand, wenn auch so gestylt, dass es in das Gemäuer passte. In den Farben und Mustern der Camargue gehalten, die Wände gegipst, die Balken sichtbar. Wenige Bilder aufgehängt.
Das Wohnzimmer wirkte heimelig, vom Kamin bis zu den Polstermöbeln, der Musik- und Fernseheranlage bis hin zum Abstelltisch und den Regalen. Sie ging herum, mit einem Glas Cola in der Hand und freute sich über den Anblick.
In der Küche gab es eine Essecke, die sie sehr mochte. Sie saß gerne in ihrem Lieblingssessel, las oder hörte Musik oder sah fern, machte in Ruhe ihre Buchhaltung, die immer à jour gehalten werden musste. Oder sie saß auf der Terrasse in ihrer Hollywood-Schaukel, und genoss den Sonnenuntergang mit allen Geräuschen, Düften und Ausblicken. Oder sie genoss eine laue Nacht daselbst. Sie lachte vor sich hin. So sollte Jocelyne sie sehen. Nein, die wollte sie hier nicht haben. Und weil ihr Vater nie ohne sie unterwegs war, auch ihn nicht. Sie stand auf eigenen Beinen und hatte die Kontakte zu früher abgebrochen.
Den Sonnenaufgang erlebte sie ab und zu beim Strand, wenn sie sehr früh joggte oder spazieren ging. Das Schlafzimmer war noch Baustelle. Außer dem Bett und einem Stuhl war kaum etwas vorhanden. Die Kleider steckten in einem Schrank im Korridor, bis hier alles war, wie sie es haben wollte. Schlafen konnte sie ja, das reichte. Die anderen beiden kleinen Räume, die dazu gehörten, fristeten ein kümmerliches Gerümpel-Dasein.
Vorrang hatten die Gästezimmer des Hauses gehabt, die Gästeküche, die kleine Reception, das Büro und die Umgebung. Der Garten zum Verweilen, die Terrassen, das Nebengebäude, das zeitweise von Angestellten bewohnt wurde oder Gästen zur Verfügung gestellt werden konnte. Der Schuppen für Werkzeuge und weitere Arbeitsgeräte, der Raum, in dem Sattelzeug und anderes Material für die Pferde und das Reiten gelagert wurde. Die Vorratskammern. Es war eine ganze Menge, das zuerst an die Reihe gekommen war. Alles Notwendige für die Einnahmen und für die Bequemlichkeit derer, welche die Dienste in Anspruch nahmen.
Zurzeit verlief das Leben ruhig. Sie genoss die Atempause, blieb offen für alles was kam und war überzeugt davon, dass es so still nicht weiterlaufen würde, dass das Leben wieder mehr von ihr verlangte. Sie saß nachdenklich auf einer Düne, ganz oben, dachte darüber nach, sah auf den stillen Strand, auf das heute ruhige Meer. Es konnte manchmal sogar noch glatter sein, wie ein See und manchmal wild und aufgewühlt. Steckte nicht auch in ihr von alledem etwas? Vermutlich in jedem Menschen, mehr oder weniger. Sie schmunzelte.
Da bemerkte sie ihn. Er musste das sein, der Mann, der dort näher kam. Sie spürte diese seltsame Unruhe in sich. Als er näher kam, bestätigte es sich. Er ging den Strand entlang. Er schien den Strand zu lieben wie sie, das Meer zu lieben wie sie. Er war wirklich groß und schlank. Sie nahm sich die Zeit, ihn von ihrem Posten aus zu betrachten. Er schien sie nicht zu sehen. Das war praktisch. Sie konnte es offen tun. Seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen, war er ein relativ junger Mann, na ja, vielleicht in ihrem Alter. Oder doch etwas mehr? Das war schwierig zu sagen. Aber sie schätzte ihn ungefähr so ein. Wieder musste sie schmunzeln. Manchmal fühlte sie sich doch schon schrecklich alt und weise. Ging es ihm auch so? Ach, sie konnte unmöglich von sich auf andere schließen. Vielleicht war es bei ihm ganz anders. Oder noch schlimmer. Männer waren in diesen Dingen viel empfindlicher als Frauen.
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