Noch war der Strand leer. Es war ein frischer Morgen. Sie mochte den Strand, mochte den Anblick des Meeres - nicht unbedingt, um dazuliegen und sich bräunen zu lassen, das kam selten vor – diesen Anblick, den genoss sie. Diesen Blick in die geheimnisvollen Weiten, die Vorstellung der Tiefen, der Kräfte, der Welten, von denen man einiges wusste, aber noch lange nicht alles. Die Sicht war so klar wie sauber gewaschen. Der Nordwind wehte in sanften Böen. Das konnte er durchaus. Er musste nicht nur heftig sein, konnte schmeicheln und trösten. Er ließ hie und da kleine Sandverwehungen – Bewegungen – entstehen. Kleine widerspenstige Wirbel fegten über die Dünen. Und manchmal warfen sie ihr Sand ins Gesicht. Die Gräser duckten sich. Kleine Krabbeltiere huschten über den Sand und verschwanden in Löchern. Vögel pickten nach ihnen. Spuren von ihnen allen blieben zurück.
Der Mann kam ihr entgegen. Er schritt, er rannte nicht. Wie schon einige Male grüßte sie ihn laut und deutlich und wie jedes Mal kam nichts von ihm. Kein Ton, keinerlei Reaktion, so als wäre da nur der Wind und keine Begegnung, keine anderen Lebewesen. Unmöglich. An diesem Morgen, nach dem gestrigen Tag voller Ärger, nach einer Nacht mit zu wenig Schlaf und schlechten Träumen, mit entsprechender Laune, drehte sie sich um. Sein stumm an ihr Vorbeigehen wie an einem angeschwemmten Holzstück, ärgerte sie. Sie lief an Ort weiter und rief ihm nach: "Ist ein kleiner Gruß so schwer? Nur ein klitzekleiner? Ein Wort? Ein Brummen wenigstens? Oder haben Sie ihre Zunge beim Laufen verschluckt? Sie sind der arroganteste Mensch, der mir je begegnet ist!"
So! Dem hatte sie es gegeben. Wenigstens das, wenn schon sonst zurzeit nichts gelingen wollte. Das war natürlich Unsinn. Sie vergaß in ihrem Ärger, dass es nur ein solcher Tag inmitten vieler anderer gewesen war. So ungerecht konnte man sein. Sonst lief nämlich alles wie es sollte. Es gab keinen Grund Klagelieder anzustimmen.
Der Kerl trug immer eine Sonnenbrille. Egal ob der Tag hell oder grau war, ob es überhaupt Tag war, ob er sich draußen oder in einem Gebäude aufhielt. Sie hatte ihn schon in all diesen Situationen damit angetroffen und konnte das behaupten. Katie atmete tief ein und wieder aus, drehte sich in ihre Richtung zurück, in einem kleinen neckischen Kreis und lief weiter, lachte vor sich hin. Es hatte ihr gut getan. Sie hatte ihrem Ärger Luft gemacht und es war ihr egal, was er von ihr dachte. Wenn er überhaupt etwas dachte. Der Ärger war verschwunden, die Laune war besser und sie konnte den heutigen Tag angehen.
Gedanken stiegen in ihr hoch. Erinnerungen. Vermutungen. Fragen. Hatte sie immer mit solchen Männern zu tun? Schon einmal, in einem besonderen Sommer, war ihr so einer begegnet. Er war zwar kleiner gewesen, als dieser hier, aber anfangs war es mit ihm genauso schwierig gewesen. Er hatte etwas an sich, dass sie gleichermaßen faszinierte und ärgerte. Und genau das war schon einmal mit jemandem so gewesen.
Sie erinnerte sich an den Sommer voller Wunder.
Es war eine Weile her und doch nicht zu lange. Viel war geschehen. Sie hatte sich verändert und doch war sie immer noch Katie. Tja, sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass der Geheimnisvolle etwas von sich gab. Wirklich mit Roby vergleichbar war er nicht. Wie kam sie überhaupt darauf? Irgendwie war es, nach dem, was sie bisher erlebt hatte, nahe liegend. Und warum begegnete sie dem Mann immer wieder?
*****
" … ich wiederhole nochmals, dass ich nichts mehr dazu zu sagen habe." Bei diesen Worten drehte er sich um und ging wütend und gleichzeitig gedankenverloren die Straße hinunter. Wann hörte das auf? Wann wurde ihr klar, dass es aus war? Er spürte es nur, sah es nicht. Er spürte einen Luftzug im Nacken, der nicht hin gehörte. Er versuchte sich um zu drehen … Etwas Hartes traf ihn am Kopf und er fiel zu Boden. Stechender Schmerz. Er fiel, hörte Leute aufschreien, hörte ihre böse Stimme. "Das hast du nun davon, du Mistkerl! Habe ich dich nicht, soll dich niemand kriegen." Noch einmal traf ihn etwas. Und wieder ein Luftzug, aber seltsam … kein weiterer Schlag?
Passanten stellten sich schützend vor ihn …
Er ging davon, merkte jedoch auf einmal, dass sich Schleier auf seine Augen legten, merkte, dass es ihm übel wurde, hielt an, setzte sich auf eine kleine Mauer, versuchte diese Empfindungen los zu werden, doch sie verstärkten sich … Alles um ihn her begann sich zu drehen, ihm wurde schwarz vor Augen. Dass er von der kleinen Mauer fiel, wusste er nicht mehr …
*****
Das erste Mal, als Katie ihn sah, saß er im Café in der Ecke - der Mann mit der Sonnenbrille. Sie sah sich nach einem freien Platz um und nur an seinem Tisch war einer frei. Sie nahm ihre Tasse vom Tresen und jonglierte sie vorsichtig bis zum Tisch, lächelte ihn an.
"Ist es erlaubt?" Sie deutete auf den freien Platz. Ihr war, als sehe sie ein Nicken. Sie bedankte sich, setzte sich, nippte an ihrem Café und fragte höflich: "Sind Sie im Urlaub? Sie haben sich eine besondere Gegend dafür gewählt. Sie werden sehen, es ist schön hier. Auch wenn es heute leicht grau ist. Es gibt viel zu entdecken und zu erleben, wenn Sie offene Augen haben."
Von ihm kam nichts. Er nahm die Zeitung, die auf dem Tisch lag, öffnete sie, blätterte darin, hielt sie hoch, verschanzte sich dahinter. Er machte deutlich, dass er sich nicht unterhalten wollte. Katie wurde gleich darauf in eine Unterhaltung am Nebentisch verwickelt. Es ging um Lokalgeschehen.
Kurz darauf stand er auf, legte sein Geld auf den Tisch und ging davon ohne ein Wort, ohne sich umzusehen, ohne das geringste Nicken oder kleine Zeichen. Er wollte keinen Kontakt. Sie sah ihm nach. Ein gut gewachsener Mann, mit einer nahezu perfekten Figur – wenn es das überhaupt gab – mit schwarzen Haaren. Er trug Jeans und ein Kurzarm-Shirt. Die Haut, die zu sehen war, sah gebräunt aus, wie das, was vom Gesicht sichtbar gewesen war.
"Seltsamer Kerl", brummte einer am Nebentisch. "Geht herum, kriegt sein Maul nicht auseinander, so als wäre es zugewachsen."
Das bestätigte sich in der Folge. Das nächste Mal traf sie ihn auf der Straße. Sie machte Besorgungen. Er kam ihr entgegen. Sie konnte es nicht lassen, lächelte und grüßte ihn freundlich. Das war hier so üblich, immerhin und sie wollte das aufrechterhalten. Er ging stumm an ihr vorbei, als existiere sie nicht, als gäbe es außer ihm niemanden weit und breit. Vielleicht war er mit seinen Gedanken weit weg und in dieser seiner Welt war tatsächlich niemand. Der Tag war hell, die Blätter der Platanen beim Platz raschelten leise. Einige Unentwegte spielten Pétanque. Andere saßen auf einer Bank und kommentierten alles, was geschah. Eine ältere Frau saß auf einem Stuhl neben ihrer Haustüre, sah zu, grüßte Vorübergehende, wechselte ein paar Worte mit denen, die kurz stehen blieben. Szenen wie aus einem Film aus der Provence, aber hier Realität, Alltag. Alles lief hier langsamer ab, als anderswo; so als wäre die Zeit irgendwann in der Vergangenheit stehen geblieben. Und vielleicht lebte er wirklich in einer ganz anderen Welt, weit ab von ihnen allen. Katie lächelte, war versöhnt. Sie mochte ihre Welt.
Ein andermal stand er in der Post direkt vor ihr in der Warteschlange. Wie meistens wollten oder mussten alle immer zur gleichen Zeit hin. Dieser Eindruck entstand. Immer wenn sie etwas brauchte, stand sie Schlange. Wenn sie einfach vorbei ging und hinein schaute, sah sie schon mal Leere und Ruhe. Es war so, eine Art Gesetz. Warum darüber ärgern? Auch diesmal hatte sie gegrüßt, als sie sich hinter ihm einreihte. Mehrstimmiges Zurück Grüßen aus der Schlange. Von ihm? Nichts. So betrachtete sie ihn unverfroren von hinten und stellte fest, dass er durchaus einen knackigen Po sein eigen nennen durfte.
Sie hoffte, wenn sie nun schon direkt hinter ihm stand, dass sie immerhin seine Stimme hören konnte, wenn er sein Anliegen vorbrachte. Aber nein, es ging absolut wortlos von seiner Seite her über die Bühne. Das war zum Verrücktwerden. Sie schüttelte erstaunt den Kopf. Das gab es doch nicht. Wie hatte er das hingekriegt? Sie musste seine Technik studieren. Es konnte manchmal von Nutzen sein, so etwas zustande zu bringen. Dann, wenn sie heiser war zum Beispiel. Sie hatte ihm jedoch schlecht über die Schulter blicken können, um zu sehen, ob er alles auf Zettel notiert hatte. Erstens war er dazu zu groß. Zweitens wäre es doch zu aufdringlich gewesen. Florence, die Frau am Schalter, sah ihr Erstaunen.
Читать дальше