"Darf ich vorher noch einmal ins Bad?", fragte sie und hoffte somit ein bisschen Zeit zu gewinnen oder wenigstens mit dem Handy ihren Mann zu erreichen.
"Natürlich, die Handtasche lassen Sie bitte hier", antwortete der Beamte und hielt auffordernd die Hand hin. Bereitwillig gab sie ihm die Tasche und ging ins Bad, wo sie die Tür hinter sich verschloss. Schweigend setzte sie sich auf die Klobrille und atmete tief durch. Sie begann alle Möglichkeiten durchzuspielen, in der Hoffnung selbst eine Lösung zu finden, sich aus dieser unerträglichen Lage zu befreien. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Mann hinter ihrem Rücken die Firma derart ruinös an die Wand gefahren hatte. „Das Haus, das Auto, die Möbel, all das muss doch noch soviel Wert haben, dass alles Finanzielle geregelt werden könnte“, dachte sie verzweifelt. Auch wenn sie sie einen Kontoauszug angesehen hatte, so war sie überzeugt, dass das immer gedeckt war. Doch so sehr sie sich anstrengte, nichts fiel ihr ein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie musste die Zähne auf die Lippen pressen, um keinen Laut von sich zu geben. Ihr Körper bibberte und der Unterleib begann zu schmerzen. Sich selbst beruhigend drückte sie ihre Hand gegen den Bauch. In sich gekehrt blickte sie ins Nichts. Sie fühlte sich im Bad wie eine Gefangene und wusste, dass, wenn sie hinausgeht, man sie zum Polizeiwagen führen würde. In Handschellen, den geifernden Blicken ihrer Nachbarn ausgesetzt. Ein lautes Klopfen und der Ruf ihres Namens ließen sie zusammenschrecken.
"Ja doch!", rief sie zur Tür und betätigte die Klospülung. Da fiel ihr Blick auf das kleine Fenster, gerade mal so groß, dass man sich hindurchzwängen konnte. Eigentlich sollte dort mal ein Gitter angebracht werden, aber daraus ist nie etwas geworden. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, drehte sie den Wasserhahn auf. Vorsichtig stieg sie auf den Rand der Badewanne und öffnete das Fenster, was zum Garten zeigte. Ängstlich sah sie hinaus. Niemand schien sich dort aufzuhalten und so machte sie sich daran, aus dem Fenster zu krabbeln. Das bequeme, jedoch für solche Zwecke viel zu enge Kleid behinderten sie so sehr, dass sie beinahe kopfüber aus dem Fenster fiel. Ungelenkig hangelte sie sich herunter und blieb im Blumenbeet stehen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz lauter schlug, als die Geräusche die sie machte. Dicht an der Hauswand entlang schleichend versuchte sie das Nebengrundstück zu erreichen. Immer darauf bedacht, von dem an den Fenstern stehenden Beamten in der oberen Etage nicht entdeckt zu werden. Der Zaun zum Nachbarn war niedrig und die Hecke mit ihren weit ausladenden Zweigen, boten ihr einen recht guten Schutz. Weder der Nachbar noch sein Hund war zu diesem Zeitpunkt da und so konnte sie ungehindert den ganzen Nachbarsgarten durchqueren. Schnell erreichte sie das andere Ende und sah sich auf dem Fußweg der abzweigenden Straße kurz um. Niemand hatte sie bemerkt. Zügig, aber nicht auffällig schnell, ging sie die Straße hinunter und bog nach einhundert Meter links ab. Immer wieder blickte sie sich um. Sie hatte das Gefühl, das tausend Augen sie beobachteten. Hinter jedem Fenster und jeder Hecke vermutete sie jemanden, der plötzlich laut rufen könnte: "Da ist sie!"
Nach gut zehn Minuten erreichte sie das Mehrfamilienhaus in der Eulenkrugstraße, in der ihre Schwester Carola mit ihrem Mann und den zwei Kindern lebte. Sie war zwei Jahre jünger und führte im Gegensatz zu Christine ein recht bescheidenes Leben. Der Verdienst ihres Mannes erlaubte ihnen nur einen Kleinwagen, der mittlerweile vierzehn Jahre alt war und zur jeder bevorstehenden TÜV-Untersuchung hergerichtet wurde. Auch sonst leisteten sie sich nicht viel. Seit Christine verheiratet war, hatte sich ihr Verhältnis zur Schwester abgekühlt. Carola und ihr Mann konnten das aufschneiderische Getue von ihrem Schwager nicht ertragen und sie waren auch überzeugt, dass er Christine nur ausnutzte und sie wie ein Dummchen behandelte. Zwar hatte Christine anderen gegenüber nie vom krankhaften Geiz ihres Mannes gesprochen, doch ab und zu vertraute sie sich ihrer Schwester an und erzählte ihr, wie unglücklich sie war. Hinzu kam, dass Carola ihre Schwester ermahnte besser auf ihren Mann zu achten und sich nicht ständig bevormunden zu lassen. Genauso oft gerieten sie dann aneinander, weil Christine wiederum glaubte, dass es nur der Neid war. Aber sie war in dieser Sekunde die Einzige, die ihr helfen konnte. Alle anderen wohnten zu weit weg oder waren nicht zu erreichen. Christine stand vor der Treppenhaustür und klingelte.
"Mach schon", zischte sie ungeduldig und presste sich gegen die Tür. Dabei kontrollierte sie immer wieder die Straße zu beiden Seiten. Jedes sich näherndes Fahrzeug ließ ihr einen Schreck durch die Glieder fahren. Der Summer erklang und sie trat ein. Hastig lief sie die Stufen zum ersten Stock hinauf, wo ihre Schwester in der geöffneten Tür stand.
"Was ist passiert?", fragte Carola überrascht, als sie Christine erblickte, die sichtlich außer Atem war.
"Du musst mir helfen Caro!", sagte sie und drängte sich an ihrer Schwester vorbei in die Wohnung. Carola sah noch einmal ins Treppenhaus und schloss die Haustür. Erst jetzt bemerkte sie, dass Christine nicht einmal ihre Handtasche dabei hatte, auf die sie nie im Leben hätte verzichten können. Sie nahm sie am Arm und führte sie in die Küche, wo Christin sich auf einen Stuhl setzte. Verstört sah sie zu ihrer Schwester auf, die sich ebenfalls setzte und fragte: "Was ist los?"
Verunsichert wippte Christine auf dem Stuhl hin und her, versuchte ihren vor Aufregung zitternden Körper zu beruhigen. Carola wiederholte ihre Frage ungeduldig.
"Die, die Polizei ist bei uns", begann Christine stockend, "sie durchsuchen das ganze Haus und mich wollten sie verhaften. Mein Gott war mir das peinlich vor den ganzen Nachbarn."
"Verhaften?", wiederholte Carola erstaunt und stabilisierte ihre Sitzhaltung. Christine fing zu weinen an und rieb sich eine Träne von der Wange.
"Ich, ich weiß nicht, was Roland da angestellt hat. Er wird ebenfalls gesucht und ich musste fliehen. Wie eine Diebin bin ich aus dem Toilettenfenster geschlichen. Ich weiß nicht was ich machen soll. Carola, alles ist wie ein schlechter Traum. Ich habe eine Scheißangst. Ich, ich …"
Schluchzend brach sie ihren Satz ab und heulte drauflos.
"Aber was hast du damit zu?", fragte Carola fassungslos, wobei sie ihr ein Taschentuch reichte. Christines Schluchzen ließ keine verständliche Antwort zu und Carola fragte noch einmal nach, wobei sie sich näher zu ihrer Schwester beugte.
"Ich meine, es ist doch seine Firma und er ist dafür verantwortlich, oder?"
Christine putzte sich die Nase und antwortete: "Ich bin als Inhaberin eingetragen und somit haftbar. So hat es mir wenigstens der Beamte erklärt. Ich hatte doch von alledem keine Ahnung."
"Und wo ist Roland?", fragte Carola skeptisch nach.
"In Frankreich, geschäftlich, wie er sagte."
"Geschäftlich", wiederholte Carola genauso spöttisch wie der Beamte zuvor und schüttelte ungläubig den Kopf, "ausnutzen tut er dich. Ich habe dir immer gesagt, dass mit deinem Mann was nicht stimmt. Aber du …"
"Danke!", fluchte Christine, "deine Vorwürfe kann ich gerade gut gebrauchen."
Dabei musste sie sich mittlerweile selber eingestehen, in was für eine Lage ihr Mann sie gebracht hatte. Carola biss sich auf die Lippe und sah ein, dass die Vorwürfe gegen ihre Schwester auch nicht weiter halfen. Doch bestätigten sich alle ihre Vermutungen, die sie bei ihrem Schwager annahm. Sie begann, ihn ebenfalls zu hassen. Erinnerte sich an Rolands mitleidigen Blick, als sie eine Steuerrückzahlung von 1400 Euro bekamen. So etwas hätte in der Portokasse, lachte er sie damals aus.
"Du könntest für ein paar Tage hier bleiben und dann würden wir …"
"Vergiss es", unterbrach Christine sie, "hier wird die Polizei doch als Erstes nach mir suchen und ich will euch da nicht mit hineinziehen ziehen. Ich muss weg, irgendwo hin."
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