Über eines war Maria zu guter Letzt hocherfreut. Die Beyerlein hatte zugegeben, dass der Junge ein guterzogener Mann ist, tadellose Manieren habe und eine freundliche Art, mit der er sie zum Picknick eingeladen habe. Das feiste Gesicht sah sehr geheimnisvoll aus. Die Beyerlein hatte sich letztlich verquasselt: Er will seine derben Worte wieder gutmachen. Sie seien nicht böse gemeint gewesen. Er sei nur sehr erschrocken gewesen und schließlich sei er durch seinen Beruf ein gebranntes Kind. In jeder Lebenslage habe er darauf zu achten, welches Unheil passieren könnte.
Recht hat der Junge, dachte Maria. Trotzdem hätte sie zu gerne gewusst, was der Falk zur Beyerlein so derbes gesagt hat, dass er ausgerechnet die zum Eröffnungs-Picknick einlud und nicht sie und Dietrich, als seine Nachbarn.
Zusammengekrümmt mit aufgeschrammter Haut an Knien uns Ellbogen liegt Joana auf dem Ding, das schon mehr als eine Nacht und wie es scheint schon mehr als einen Tag lang ihr Bett war. Die lädierten Stellen brennen wie Feuer. Der lose Beton in den Wunden tut das Seine.
Wenigstens hat sie jetzt Licht. Sie kann hin und her laufen und ihre Wunden waschen. Und sie erkennt ihre Uhr. So gesehen geht es ihr wahrscheinlich besser als jedem anderen Opfer eines dieser perversen Schweine, die ihre Geiseln anketten.
Sie hat keine Ahnung, ob sie richtig fühlt. Wenn sie seinen Worten folgt, ist er ein Schwein. Bis zu dieser Minute – die Uhr zeigt immerhin gleich Mitternacht – ist er noch nicht zurückgekommen. Beruhigend kann sie das nicht finden. Je später der Abend, desto gieriger diese abartigen Typen.
In ihr ist wieder die Angst, die dunkle bedrohliche Angst vor der Macht, die von diesem Kerl ausgeht.
Er hockt da oben irgendwo und brütet seine perfiden Ideen aus, was er alles mit dem ängstlichen Häschen im kalten Verlies anstellen kann.
Ihr scheuer Blick in alle Ecken dieses Kellers kann nichts erspähen, was ihr helfen könnte, sich zu wehren. Es ist vermutlich unklug, es noch ein einziges Mal körperlich zu versuchen. Was, verdammt, kann sie tun? Maximal subtil vorgehen. So ähnlich hat es ihr der Rechtsanwalt damals geraten, bei dem sie vorstellig werden musste, weil dieser Stalker mehr als nur lästig geworden war.
Joana spürt jede Minute, die ungewiss bleibt, was in Kürze mit ihr geschieht. Sie fühlt sich wie ein verängstigtes Kind, das nach einem bösen Traum keinen Schlaf mehr findet.
Neben dem Klo über dem winzigen Waschbecken hängt ein ebenso winziger Spiegel. Mühsam schleppt sie sich bis dorthin, weil ihre Muskeln den Dienst versagen, weil ihre Nerven den Körper vibrieren lassen. Kaum, dass sie ihr Gesicht vollständig betrachten kann, weiß sie sofort: Die Ausstrahlung einer selbstbewussten Frau, der man nachsagt, sie sei schön, ist dahin.
Warum weigere ich mich, ehrlichen Herzens zu glauben, es habe mit Luisa zu tun? Hat dieser Dreckskerl nicht selbst von Luisa geredet? Ist es so, wie vermutet? Aber warum tut er dann nicht, was Luisa bezweckt?
Von ihren eigenen Gedanken angewidert weicht sie zurück und fällt beinahe über die Kloschüssel. Das, woran sie gedacht hat, wird leider früh genug passieren, vermutlich öfter als sie ertragen kann. Da hilft nichts zu beschönigen, wenngleich er es sich fürs Erste anders überlegt hat. Es ist beängstigend, an eine Ausnahme zu glauben, zugleich schierer Selbstmord, an keine zu glauben.
Es wird einen Grund geben, dass er sie heute noch in Ruhe lässt. Es kann nur ein besonders boshafter, ein besonders niederträchtiger sein, ein schmerzlich entwürdigender … Er wird mich nicht in Ruhe lassen. Welchen besonderen Grund kann es also geben? Meine Eltern sind nicht so reich, dass es um Geld gehen könnte, und woher sollte dieser Kerl wissen, wo sie wohnen und wo er seine Erpressung erfolgreich platzieren kann? Die beiden haben sich ein wirklich schönes Leben aufgebaut. Wer lässt sich das gerne kaputt machen, noch dazu von einem solchen … Miststück …! Widerling…! Dreckskerl…!
Eine kleine Hoffnung sagt ihr, der Schlag in die Weichteile hat seinen Trieb unterbunden, abgeschnitten von seinem zwanghaften Willen.
Er wird es ihr heimzahlen. Er wird sie bestrafen mit allem, was in seiner Macht steht. Das ist beileibe nicht wenig …
Sie greift nach dem Korb mit all den Dingen, die er für sie schon in der letzten Nacht bereitgestellt hat, aber vergessen hatte, das Licht anzulassen. Einer, der ehrlich gewollt hätte, dass sie nicht hungert oder durstet, hätte daran gedacht …
Sie schleudert diesen lausigen Trick vorgetäuschter Menschlichkeit in die linke Ecke, wo keines der Gegenstände steht, die ihre kalte, widerwärtige Bleibe füllen, für die sich der Kerl so viel Mühe gegeben haben will. Es scheppert so laut, dass sie leichenblass für gefühlte fünf Minuten die Luft anhält und gebannt nach oben starrt, wo die Luke jeden Moment aufgehen und die ekelhafte Fratze herunter glotzen wird.
Wahrhaftig, sie sollte etwas essen, aber sie traut dem Widerling nicht über den Weg. Irgendwie – durch irgendetwas – muss er es schließlich geschafft haben, sie zu betäuben und in dieses Verlies zu schleppen. Ihr Körper zeigt nirgendwo einen Einstich …
Ihre Lippen sind blutleer. Sie weiß, sie bräuchte auf diesen Schreck etwas Alkoholisches, was wenigstens für diese Nacht die Schärfe aus der widerlichen Lage nehmen könnte. Davon hat der Mistkerl leider nichts eingepackt – jedenfalls allem Anschein nach, sofern sie den Haufen Matsch aus Brotresten, Wurst und Käse, eingeweicht in etwas bräunlich Flüssigem, weil es sich offenbar beim Aufprall mit Honig vermischt hat, nicht missdeutet. Dieses bräunlich eklige Chaos klebt inzwischen dort in der Ecke, drapiert mit etlichen Glas- und Porzellanscherben.
Zögerlich gleitet Joana zurück auf die Liege. Zum ersten Mal weint sie still in sich hinein. Die raue Decke um ihren Leib geschlungen, krümmt sie sich zu einem hilflosen Embryo. Irgendwie ist ihr, als sei der Tag gekommen, sich innerlich von ihrer geliebten Welt zu verabschieden. Beißender als Hunger und Durst sind die Einsamkeit wie die Ungewissheit, ob sie draußen vermisst wird. Wenn sie nur wüsste, welche Rolle Luisa spielt.
Wie sie es auch dreht, nur Luisa wusste von ihrem Date mit Fabian. Und nur Luisa hatte dagegen Bedenken. Ein herber Schlag, wie man von einem so glücklichen Abend in einen so verdammt schmerzlichen Morgen kommen kann …
Was dieser miese Kerl vorhat, der irgendwo über ihr seine Wunden leckt, weiß sie nicht. Zu vermuten ist vieles. Das Schlimmste ist der Gedanke an erzwungene Sexualität. Schon immer war ein solcher Gedanke ein Alptraum für sie. Seit sie das Messer gesehen hat, kommt ein zweiter dazu. Warum ihr ausgerechnet Luisas Spruch einfällt, will sie gar nicht wissen. Er gehört zu ihrer Abscheu. Hätte sie etwas im Magen, wäre sie froh, es auskotzen zu können. Bei Schweinen dauert der Orgasmus eine halbe Stunde lang.
Sie weiß nicht, ob es eine Weisheit der Natur ist oder nur Ausdruck von Luisas Hass auf – wie sie einmal sagte - sexbesessene Hurensöhne. Sie will Luisas offenkundig absurdem Orakel keine Beachtung schenken, kommt allerdings nicht umhin, darüber zu grübeln, ob sie mit Fabian Sex hatte und wie es war mit ihm. Es muss etwas in ihr sein, was sie den Abend vergessen lässt. Da hat sich dieser Kerl getäuscht. Sie hat nur die wiederholbaren Dinge vergessen, die passiert sind, als sie selbst sich vergessen hatte. Sie sehnt sich so nach Fabian, er ist der größte Verlust.
Sie sucht nach Bildern, die der Abend in ihr hinterlassen hat. Sie sucht nach Worten, die er ihr zugeflüstert hat, zärtlich, ohne anzügliche Blicke oder Andeutungen, ohne jegliche Beteuerungen. Fabian ist wirklich etwas Besonderes. Es muss ein Engel im Himmel seinen Dienstplan geschrieben haben, als er an ihrem Tresen stand und nach dem Patienten fragte, den er zu besuchen habe. Es war offenbar ein Notfall, denn der Mann wurde sofort mitgenommen. Wenn Fabian wüsste, warum sie so auf ihn abgefahren ist. Für eine kurze Zeit war es ihr sogar peinlich, später war sie sogar ehrlich froh über seine Ähnlichkeit mit Felix. Womöglich hätte sie niemals die Initiative ergriffen.
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