„Papa trinkt manchmal ein paar Bier mit Karl, dem Besitzer der Tankstelle“, flüsterte Sebastian Jonathan zu, während sie den steilen Hügel hinunter stiegen. Es gab einen schmalen Pfad, der die weitläufigste Kurve der Straße abkürzte. Sie mussten im Gänsemarsch gehen. Die braune Erde war glitschig, noch feucht vom Regen und Jonathan hielt sich an dem hölzernen Geländer fest, um nicht auszurutschen.
„Das ist super“, redete Sebastian weiter. „Karl ist nett. Ich kriege immer einen Schlecker oder Bonbons. Und dann darf ich tun, was ich will, bis Papa fertig ist.“
„Und was machst du da?“ Jonathan warf ihm über die Schulter einen neugierigen Blick zu. Bis jetzt hatte Sebastian noch nie mit ihm gespielt. Aber sie hatten ja auch noch kaum Zeit dafür gehabt.
Der Ältere zuckte die Schultern. „Ich tue meistens gar nichts. Ein wenig im Schuppen herumstöbern. Zuhören, was die Männer reden. Papa erzählt immer so lustige Witze.“
Jonathan sah ihn erstaunt an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Onkel Paul Witze machte.
Karl Steiger war ein kleiner Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem dunklen Schnauzbart, vielleicht so alt wie Onkel Paul. Er zwinkerte Jonathan zu, als er ihm die Hand gab. „Du bist also Pauls Neffe“, meinte er und lächelte. „Ich habe schon von dir gehört und war neugierig darauf, dich kennen zu lernen.“
Jonathan nahm seine Hand. Er mochte Karl auf Anhieb, auch wenn er nicht wusste, warum. Vielleicht weil er einfach nur nett war.
Karl schloss den kleinen Laden auf, der zur Tankstelle gehörte. Jonathan fielen sofort die großen Glasbehälter auf, die mit Bonbons, Schleckern und anderen Süßigkeiten gefüllt waren. „Sucht euch etwas aus“, meinte Karl. „Aber nur zwei Stück für jeden, in Ordnung?“
Sebastian stürzte sich auf das Gefäß mit Schleckern. „Die halten am längsten, da hast du mehr davon“, meinte er mit verschwörerischem Grinsen.
Wenig später saßen sie einträchtig hinter dem Haus und lutschten an ihren Süßigkeiten. Jonathan drehte den Schlecker in seinem Mund, sog den sauren Himbeergeschmack genüsslich auf.
Er hörte, wie die Männer sich unterhielten, lachten. Seltsam. Onkel Paul lachte eigentlich sonst nie.
„Das dauert jetzt eine Weile“, meinte Sebastian. „Gucken wir uns ein wenig um? Ich zeige dir alles.“
Jonathan folgte ihm. Es gab nicht viel zu sehen. Die Tankstelle mit den beiden Zapfsäulen, in deren Nähe es aufregend nach Treibstoff roch. Ein Schuppen hinter dem Haus, der mit altem Gerümpel voll geräumt war. Zwischen leeren Farbdosen und Holzkisten stand eine Werkbank, auf der Werkzeug lag. Ein Hammer, einige Zangen, eine kleine Säge. Sebastian grabschte nach einer Handvoll Nägel und steckte sie ein. „Wer weiß, wozu man die brauchen kann“, grinste er.
Der Nachmittag verging viel zu schnell. Ein scharfer Pfiff schreckte die Jungen auf, die auf der Wiese hinter der Tankstelle Nachlaufen spielten.
Onkel Pauls Gesicht war rot und seine Augen glänzten. „Kommt jetzt. Zeit nach Hause zu gehen“, sagte er mürrisch und mit undeutlicher Aussprache. Jonathan musterte ihn ängstlich. Auch Sebastian zog den Kopf ein.
Schweigend stapften sie den Hügel hinauf.
Das Haus erschien Jonathan jetzt, nach diesem unbeschwerten Nachmittag, wie ein Gefängnis. Wie dieser böse Drache, der in seinem Zimmer an der Decke lauerte.
Onkel Paul stieß die Tür auf und Jonathan bemerkte, wie durch Tante Minas mageren Körper ein Ruck ging. Sie machte sich noch kleiner, als sie ohnehin schon war.
„Essen“, sagte Onkel Paul barsch. Seine gute Laune war wie fort geblasen.
Jonathan hatte das Gefühl, als würde sich ein schwerer Stein auf ihn legen, der ihm den Atem nahm.
Während der Mahlzeit herrschte gespanntes Schweigen. Mina zuckte bei jedem Geräusch zusammen und auch Sebastian saß mucksmäuschenstill auf seinem Stuhl.
Nach dem Essen wurden die Jungen auf ihre Zimmer geschickt.
„Papa hat zu viel getrunken. Jetzt wird er Mama wieder bestrafen“, flüsterte Sebastian, als sie die Treppe hoch stiegen. Sein Cousin lächelte. So, als ob ihm das Freude bereitete.
Jonathan überlief eine Gänsehaut.
Später drangen Minas gedämpfte Schreie aus dem Schlafzimmer. Er zog die Bettdecke über die Ohren und kniff die Augen ganz fest zu.
*****
Am ersten Schultag nach den Osterferien weckte ihn Sebastian. „Sieh doch nur, was ich gekriegt habe!“
Jonathan blinzelte schlaftrunken.
„Nun mach schon!“ Sebastian zog ihm ungeduldig die Bettdecke weg.
Jonathan schrie auf. Es war eiskalt im Zimmer. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Cousin über das ganze Gesicht strahlte.
Sebastian trug Jeans. Seine - Jonathans - Lieblingsjeans. Die mit dem Flugzeugsticker auf dem Knie.
„Da staunst du, was? Die passen mir sogar. Gut, dass ich so dünn bin. Nur zu kurz waren sie. Aber Mama hat sie länger gemacht.“ Sebastian hob das Bein und Jonathan konnte den breiten, dunklen Streifen sehen, der seine Jeans zu der von Sebastian gemacht hatte.
Er wollte schreien. Aber es ging nicht. Der große, dicke Kloß saß wieder in seinem Hals und schnürte ihm die Luft ab.
Sebastian schlug die Tür zu und Jonathan konnte hören, wie er über die Treppe hüpfte.
Er dachte an seine Mutter. Sie hatte die Jeans für ihn ausgesucht. Damals, vor ewig langer Zeit, als noch alles in Ordnung war. Der Gedanke daran machte alles nur noch schlimmer. Der Kloß in seinem Hals erdrückte ihn fast.
„Jonathan? Wenn du nicht augenblicklich herunterkommst, gibt es kein Frühstück mehr!“ Die schrille Stimme Tante Minas ließ ihn hastig aufspringen.
Er schlüpfte in eine von Sebastians abgelegten Stoffhosen. Sie war scheußlich bunt kariert. Das Hemd war ihm zu groß, aber er krempelte die Ärmel hoch.
Hastig würgte Jonathan den üblichen, geschmacklosen Haferbrei hinunter. Er hatte eigentlich keinen Hunger. Der Kloß machte sich in seinem Bauch breit und ließ für nichts anderes Platz.
Schnell stibitzte er noch ein Stückchen trockenes Brot für Micky und stürmte in sein Zimmer.
Sebastian hockte vor dem Käfig, fuhr hoch, als Jonathan eintrat. Sein blasses Gesicht wurde rot.
„Was tust du da?“ Jonathan schob ihn zur Seite. Das Tier drückte sich ängstlich in den hintersten Winkel an das Gitter. „Du hast etwas mit Micky gemacht, oder?“ Jonathans Herz klopfte wild.
„Du spinnst doch. Hab ich nicht. Ist einfach nur eine blöde, langweilige Maus“, behauptete sein Cousin, wandte sich ab und lief die Treppe hinunter.
Als Jonathan die Käfigtür öffnete, huschte die Maus panisch von einer Ecke des Käfigs in die andere. Vorsichtig legte er das Brotstückchen auf den Käfigboden. Früher hatte ihm Micky aus der Hand gefressen.
„Papa hat ein Fahrrad für dich besorgt“, sagte Sebastian, als sie das Haus verließen. „Es steht im Schuppen. Ich fahre immer mit dem Rad zur Schule.“
Das Fahrrad war rostig, der einstmals blaue Lack zum größten Teil abgeblättert, der Kotflügel verbeult. Jonathan musste schlucken, als er an sein kaputtes Rad dachte, das er früher gehabt hatte. Es war bedeutend schöner gewesen als das hier.
Aber Sebastian ließ ihm keine Zeit für traurige Gedanken. Der Ältere schwang sich auf sein eigenes Rad, das auch nicht viel besser aussah als das von Jonathan. Und schon sauste er die Zufahrt hinunter, auf die Straße.
Jonathan bemühte sich, ihm zu folgen.
Zuerst fuhr er noch vorsichtig, probierte die Bremsen aus. Sie funktionierten einwandfrei.
Sebastian wartete unten an der Straße auf ihn. „Nun komm schon! Wer am schnellsten bei der Ortstafel ist!“ Und schon trat er in die Pedale.
„Warte!“, schrie Jonathan.
Die Straße führte in vielen Windungen immer bergab. Jonathan war noch nie eine derartig schwierige und lange Strecke gefahren.
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