„Was?“ Jonathan zuckte zusammen. Paul starrte seinen Sohn an, stieß heftig den Atem aus. „Geht das schon wieder los? Erst kommst du mit diesem Affentheater wegen des zusätzlichen Zeichenunterrichts und jetzt willst du auch noch singen? Schlag dir diesen Blödsinn aus dem Kopf! Zeichnen und singen! Das ist etwas für Weiber!“
Er holte aus und versetzte Sebastian eine Ohrfeige.
Jonathans Herz klopfte wild, er musste mit aller Macht den erschrockenen Laut unterdrücken, der sich befreien wollte. Sein Cousin zog den Kopf ein, legte die Hand auf die Wange. Seine Augen waren wie zwei blaue Glasmurmeln. Kalt und klar.
„Du lernst etwas Ordentliches, mein Sohn“, knurrte Onkel Paul. „Und jetzt will ich meine Ruhe haben.“
Sebastian sprang auf, verließ die Küche und Jonathan folgte ihm die Treppe hinauf.
„Tut mir leid für dich“, murmelte er und legte die Hand auf den Arm seines Cousins. „Ach, halt dein Maul“, fauchte Sebastian und schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu.
Am Abend lag Jonathan noch lange wach, lauschte in die Dunkelheit. Hoffte darauf, das Trippeln kleiner Füße zu hören und darauf, dass Micky vielleicht in den Käfig zurückkehrte.
Am nächsten Morgen fand er die Maus auf seinem Bett.
Minutenlang starrte Jonathan sie an, ohne zu begreifen, was er sah.
Micky lag auf einem Holzbrett. Gänseblümchen waren liebevoll um den kleinen Körper drapiert, der mit Klebeband auf das Brett fixiert worden war.
Aus Mickys Bauch ragte ein Nagel. Ein großer, dicker, so wie einer aus Karls Werkstatt.
Jonathan schluckte. Eine Welle von Übelkeit übermannte ihn. Er kniff die Augen zu, aber das Bild verschwand nicht aus seinem Gedächtnis. Die vor Schmerz gekrümmten kleinen Pfoten, das blutverschmierte Mäulchen.
„Die arme Maus“, sagte Sebastian, der unbemerkt in das Zimmer gekommen war. Er stupste den toten Körper leicht mit dem Zeigefinger an. „Wir müssen sie begraben, nicht wahr?“
Jonathan nickte stumm. In seinem Hals saß ein dicker Kloß, ein Ding mit scharfen Kanten, das beim Schlucken schmerzte und einfach nicht verschwinden wollte.
Sebastian nahm das Holzbrett auf und trug es feierlich in den Garten. Er führte Jonathan zu einer entfernten Ecke, nahe am Zaun, der den Garten vom dahinter liegenden Wald abgrenzte. Hier gab es ein kleines Blumenbeet. Zwischen den einzelnen Pflanzen lugte die braune Erde hervor. Sebastian zeigte mit dem Finger auf eine Stelle. „Da! Du musst ein Loch graben.“
Jonathan gehorchte. In ihm war alles kalt und Sebastians Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm. Mit mechanischen Bewegungen hob er das Erdreich neben einem Büschel Märzenbecher aus.
Sebastian hatte inzwischen eine Zange geholt. Geschickt zog er den Nagel aus dem toten Körper und Jonathan schluckte. Er presste die Lippen fest zusammen und atmete tief durch, um sich nicht übergeben zu müssen.
„Du musst sie der Erde schenken“, flüsterte Sebastian. Er starrte fasziniert auf den kleinen Leichnam.
Jonathan überlief ein Schauder, als er den steifen Körper berührte. Sanft legte er ihn auf die feuchte Erde.
„Und jetzt musst du singen“, sagte Sebastian.
Jonathan schüttelte den Kopf.
„Los, sing!“ Sebastian stieß ihm die Faust in die Rippen. Für einen Moment blieb Jonathan die Luft weg, als bohrender Schmerz durch seine Seite schoss.
„ Wir sind nur Gast auf Erden . Das musst du singen. Das passt zu einem Begräbnis.“
„ Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh. Mit mancherlei Beschwerden der Ewigen Heimat zu“ , sang Sebastian. Er sang wunderschön, mit glockenheller Stimme. Ein glückliches Lächeln lag auf dem Gesicht des Jungen.
Jonathan starrte ihn an. So hatte er seinen Cousin noch nie gesehen.
„Los, sing mit!“ Wieder stieß Sebastian ihn in die Seite. Und Jonathan gehorchte.
„ Die Wege sind verlassen, und oft sind wir allein. In diesen grauen Gassen mag niemand bei uns sein.“
Sebastian schaufelte Erde auf Mickys Körper. Jonathan starrte auf die Grube, bis nichts mehr von der Maus zu sehen war. Er lief aus dem Garten, rannte den Abhang hinunter, auf die Straße, immer weiter.
Tränen schossen heiß in seine Augen, aber er achtete nicht darauf, stolperte blind dahin.
Weg. Nur weg von hier!
*****
Mit geschlossenen Augen lag Jonathan unter dem Kastanienbaum. Tief atmete er den Duft des Laubes ein. Die Nacht hatte ihren schützenden Mantel um ihn gelegt, machte die Erinnerung erträglicher.
Jonathan wischte über sein Gesicht und stellte verwundert fest, dass es nass war.
Er öffnete seine Augen und sah in den klaren Sternenhimmel. Tröstlich und beschützend wölbte sich das Nachtblau über ihm.
Niemand konnte ihm die Last abnehmen, die er trug. Er hatte nur einen Teil seiner Vergangenheit gesehen. Er ahnte, es musste noch viel Schlimmeres geschehen sein.
Das schrille Läuten des Weckers holte Viktoria aus einem Alptraum, in dem sie gegen Hunderte von grapschenden Händen ankämpfen musste.
Sie stöhnte und vergrub ihren Kopf im Kissen.
Versagerin! Jämmerliche Versagerin!
Bei der Vorstellung, jetzt ihrem Vater gegenübertreten zu müssen, wurde ihr schon wieder übel. Er würde sie sicherlich zur Rede stellen und das zu Recht.
Sie hatte keinen Entschuldigungsgrund, zumindest keinen, den ihr Vater akzeptieren würde. Oder sollte sie ihm sagen, dass Valentin ihr die Augen geöffnet hatte für die Ungerechtigkeit, die auf der Welt herrschte? Dass dieser Troger nur seinen Profit im Kopf hatte? Es war sein gutes Recht, er hatte seine Firma mühsam aufgebaut und viel investiert. Warum sollte er auf irgendwelche Träumer Rücksicht nehmen? Das ergab doch alles keinen Sinn!
Und trotzdem – ihre Entscheidung, diesen Auftrag abzulehnen, fühlte sich richtig an.
Lily, die Sekretärin ihres Vaters musterte sie mit einem neugierigen Seitenblick. Wahrscheinlich hatte Troger sie schon informiert, dass sie den Auftrag platzen lassen hatte.
Viktoria straffte die Schultern, atmete tief ein und betrat nach einem bewusst energischen Klopfen das Büro ihres Vaters.
Er thronte hinter dem Schreibtisch wie eine personifizierte Gottheit. Erich Sandgruber war mit seiner Größe von einsneunzig und seiner breitschultrigen Gestalt eine imposante Erscheinung. Nie sah man ihn anders als in Anzug und Krawatte, das blonde, schüttere Haar streng gescheitelt. Der eisige Blick seiner blauen Augen durchbohrte sie. Unwillkürlich zog Viktoria den Kopf ein.
Ihr Vater musterte sie ausdruckslos. Aber seine Finger trommelten nervös auf der blank polierten Tischplatte. Unwillkürlich versteifte sie sich.
„Nachdem deine Mutter euch einfach verlassen hat, lag die ganze Verantwortung für eure Erziehung bei mir. Ich habe mich wirklich bemüht, euch einen guten Start zu bieten. Ich habe Tag und Nacht geschuftet, um die Agentur zu dem zu machen, was sie jetzt ist.“ Seine Stimme klang beherrscht, aber sie hörte den Zorn, der hinter seinen Worten lauerte.
Viktoria fixierte seine Krawatte, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Sie wusste, was kommen würde. Das Credo ihres Vaters war ihr nur allzu gut bekannt.
„Und dein Bruder hat sich aus dem Staub gemacht.“
„Er ist ein erfolgreicher Architekt“, sagte sie müde. „Du könntest stolz auf ihn sein.“
„Er hat die Familie und die Firma verraten, so wie deine Mutter.“
Er stieß den Atem aus und Viktoria spürte die unterdrückte Wut. Sie hob den Kopf und sah ihn an. „Ich glaube nicht, dass du mich zu dir beordert hast, um mir das zu sagen.“ Für einen Moment las sie Überraschung in seinem Blick. Sie bot ihm selten Paroli. Doch sofort hatte er sich wieder unter Kontrolle.
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