„Otto Troger hat mich heute Morgen angerufen.“ Er betonte jedes Wort und machte nach jedem eine kleine Pause.
Viktoria biss sich auf die Lippen und räusperte sich. Der Sturm würde gleich zu toben beginnen. In ihrem Hals saß ein dicker Kloß. „Er hat dir wahrscheinlich gesagt, dass er sich eine andere Agentur für seine Kampagne suchen wird.“
„Allerdings. Kannst du mir eine Erklärung dafür geben?“ Noch beherrschte er sich, versuchte ruhig zu bleiben. Aber die Adern auf seiner Stirn waren sichtbar angeschwollen.
Sie schluckte krampfhaft. „Ich nehme an, ich machte auf ihn einen zu wenig professionellen Eindruck.“
Erich Sandgruber durchbohrte sie mit seinem Blick. „Seltsam. Genau das waren seine Worte gewesen. Was gedenkst du dagegen zu tun?“ Er begann, rhythmisch mit den Fingern seiner linken Hand auf den Tisch zu trommeln. Tack-tack-tacktacktack.
Für einen Moment war Viktoria versucht, laut aufzuschreien.
Na los! Tu es! Schrei mich an, schlag mich!
Aber das würde ihr Vater nicht tun. Nicht mehr.
Sie zählte in Gedanken bis drei. „Was ich dagegen tun werde?“, meinte sie gedehnt, bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Nichts. Absolut nichts. Diese Art von Auftrag liegt mir einfach nicht.“
Sie hörte, wie er nach Luft schnappte, sprang auf, ohne ihn anzusehen und stürmte zur Tür hinaus.
Erst in ihrem Büro gestattete sie sich einen tiefen Atemzug. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, am ganzen Körper zitternd, horchte. Wartete auf den Wutausbruch ihres Vaters, der unweigerlich kommen musste.
Seltsam. Alles blieb ruhig.
Das schlechte Gewissen meldete sich sofort.
Ich hätte ihm nicht widersprechen sollen. Ich war völlig unprofessionell.
Was habe ich schon getan?
Sie lächelte bitter . Ich habe einem hart an seinem Projekt arbeitenden Menschen, der endlich Geld mit seiner Idee verdienen will, erklärt, dass er das gefälligst lassen soll, weil es moralisch nicht vertretbar ist, der Menschheit ein Getränk zuzumuten, das gänzlich aus synthetischem Zeug besteht. Dank einer närrischen Verliebtheit, die keinen Sinn und Zweck hat!
Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich ihr Körper. „Aber ich habe endlich widersprochen. Das ist doch gut. Ich muss lernen, mich zu behaupten, sonst werde ich nie ernst genommen. Ich weiß doch, wie sehr Vater an allem hängt, was seine Arbeit betrifft. Ich bin ihm ja auch dankbar, aber …“ Ihr Flüstern huschte durch den kleinen Raum. Dann starrte sie auf die Schreibtischunterlage, bis ihr Blick verschwamm. Nebenbei horchte sie noch immer auf jedes Geräusch von draußen. Auf schwere Schritte, die sich ihrer Bürotür nähern mussten.
Wird er mich neuerlich zur Rede stellen? Wird er schreien, mir wieder einmal Undankbarkeit vorwerfen? Früher hat er …
Viktoria sprang auf. Sie würde nicht darauf warten. Zumindest nicht hier in der Agentur.
Sie schnappte ihre Handtasche und verließ das Büro. Lily warf ihr einen erstaunten Blick zu, den sie mit einem bewusst strahlenden Lächeln erwiderte. „Ich nehme mir heute frei, sagen Sie das meinetwegen dem Chef!“
Mit zitternden Fingern drückte sie den Liftknopf, heimlich betend, dass niemand aus der Agentur sie sah. Wartete noch immer darauf, dass ihr Vater herausstürmte, schreiend vor Wut. Ihr Herz klopfte so wild, dass sie glaubte, es müsste ihr aus der Brust springen.
Sie schlüpfte in den Lift, gestattete sich ein erleichtertes Aufatmen, als er sich in Bewegung setzte. Ihr roter Renault parkte in der Tiefgarage, direkt neben dem Mercedes ihres Vaters. Wie mickrig er sich neben dem großen Wagen ausmachte!
Viktoria lächelte bitter. Genauso mickrig fühlte sie sich in Gegenwart des allmächtigen Erich Sandgruber.
Sie setzte sich in den Wagen, schloss die Tür. Aber erst als sie die Garage verlassen hatte, fühlte sie sich ein wenig sicherer.
Die Fahrt zu ihrer Wohnung legte sie beinahe wie in Trance zurück.
Wann hatte das angefangen? Wann hatte sie begonnen, in ihrem Vater einen Gegner zu sehen, den man fürchten musste?
Als sie die Arbeit in der Agentur aufgenommen hatte, war sie so stolz darauf gewesen, in seine Fußstapfen treten zu können. Sie hatte sich auch wirklich bemüht, aber ihr Vater war ein unbarmherziger Chef, wie sie schnell feststellen musste. Dass sie seine Tochter war, half ihr nicht. Im Gegenteil – er fasste sie härter an als seine anderen Mitarbeiter. Es hatte ihr nichts ausgemacht – bis ihr Valentin die Augen geöffnet und ihr gezeigt hatte, dass es auch noch anderes gab.
Die Garconniere, die sie erst vor einem halben Jahr gemietet hatte, befand sich am Stadtrand in einer der neuen, unpersönlich wirkenden Wohnanlagen. Vierzig Quadratmeter Eigenständigkeit, die sich Viktoria bitter erkämpfen musste. Ihr Vater verstand nicht, warum sie nicht in der elterlichen Villa wohnen bleiben wollte, in der doch ohnehin genug Platz war. Und beinahe hätte er auch ihre Unabhängigkeitsbestrebungen im Keim erstickt. Aber dann bekam sie unerwartet Unterstützung von Georg, ihrem Verlobten.
Er hatte es geschafft, mit der ihm eigenen Ruhe und Logik Erich Sandgruber zu überzeugen, dass Viktoria ein wenig Freiraum brauchte, um selbständig zu werden.
Viktoria betrat den Lift, der sie in das dritte Stockwerk bringen sollte. Ihre zitternden Hände kramten nach dem Wohnungsschlüssel. Sie fühlte sich ausgehöhlt und erschöpft. Die vergeblichen Versuche, gegen ihren Vater und gegen die Gefühle für Valentin anzukämpfen, raubten ihr langsam aber sicher alle Kraft.
Sie ließ sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Ihre Augen brannten von ungeweinten Tränen.
„Was ist nur mit dir los, du Heulsuse?“, schimpfte sie mit sich selbst. „Du hast doch alles, was du brauchst. Einen tollen, gut bezahlten Job mit Aufstiegschancen, deine eigene Wohnung, einen netten Verlobten.“
Georg. Ja, er war nett.
Er sah gut aus, hatte angenehme Manieren, einen Job in einer großen Import-Export-Firma. Er besaß den nötigen Ehrgeiz und das Fingerspitzengefühl, die für eine Karriere in dieser Branche nötig waren.
Und vor allem: Georg Hellfried entsprach genau Erich Sandgrubers Vorstellungen von Viktorias zukünftigem Mann. In einem Jahr würden sie heiraten, in eine gemeinsame Wohnung ziehen.
Aber er war nicht wie Valentin Rainer.
Sie schloss die Augen, um das sterile Weiß der Decke nicht mehr ansehen zu müssen.
Die Vorstellung, Georgs Frau zu werden, verursachte in letzter Zeit Anfälle von Atemnot.
Ich liebe ihn doch. Oder nicht? Was stimmt bloß nicht mit mir?
Wenn ich ihn wirklich lieben würde, könnte mir nicht so einer wie Valentin den Kopf verdrehen.
Das hat er doch gar nicht getan.
Aber ich habe es mir eingebildet. Ich habe mir eingebildet, dass da mehr sein könnte.
Ich hätte es mir gewünscht.
Eine Ehe musste nicht zwangsläufig auf Romantik und Liebe aufgebaut sein. Es genügte, wenn man sich gut verstand, die gleichen Interessen und den gleichen gesellschaftlichen Hintergrund hatte.
So sagte Erich Sandgruber.
Georg war auch seiner Meinung.
Sex gehört dazu, schließlich muss es jemanden geben, dem man alles vererben kann. Davon abgesehen, ist das ganze Getue aber nicht unbedingt wichtig.
Wann hatte Georg zum letzten Mal mit ihr geschlafen?
Nach einer dieser Tarockrunden bei seinem zukünftigen Schwiegervater. An einem Sonntagmorgen, wenn sein Geist noch benebelt war von unzähligen Gläsern Rotwein, so wie fast immer in letzter Zeit. Am Anfang war es anders gewesen …
Es ist erschreckend, wie viel Routine in unserer Beziehung herrscht. Und dabei sind wir noch nicht einmal verheiratet.
Sie hatte sich beim letzten Mal vorgestellt, es wäre Valentin, der sie berührte, um wenigstens ein wenig Lust zu empfinden.
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